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Meinung: Bürger, hört auf die Rolling Stones

Was ein Brite den Deutschen im neuen Jahr wünscht

Es gibt zwei Arten von Neujahrswünschen: die utopischen (perfekte Gesundheit, weltweiter Frieden, Sechser im Lotto) und die mechanischen (Traumsex mit der Nachbarin, ein Sportfahrwerk für den BMW). Solche Wünsche führen unweigerlich zu Enttäuschungen – weshalb man sie besser vermeidet. Der 1. Januar ist das Datum für blinden Optimismus. Weshalb auch der Euro zum Festtag des Heiligen Sylvester eingeführt wurde und nicht zum näher liegenden Namenstag des Heiligen Judas, des Patrons der zum Scheitern verdammten Projekte.

Die Kunst besteht darin, die Wünsche so auszuwählen, dass sie einerseits realistisch sind – und andererseits das Potenzial haben, unser Leben ein wenig zu verändern. Es hat, zum Beispiel, wenig Sinn, auf einen demokratischen Irak zu hoffen. Oder auf einen amerikanischen Präsidenten, der Proust liest. Für mich wäre ein lebensverändernder Einschnitt, wenn mein Chef plötzlich zurücktritt. Oder mein Vermieter zum Hinduismus konvertiert. Beides sind völlig akzeptable Wünsche, haben aber den Nachteil, dass ihnen die epochale, neutestamentarisch-optimistische Dimension fehlt, die die Meinungsmacher des Tagesspiegel erwarten. Sie glauben – nicht ohne Berechtigung –, dass Neujahr ein Anlass für neue Hoffnung ist und ironischer Sarkasmus bis zum 2. Januar zu schweigen hat. Probieren wir’s mal:

1. Mein erster Wunsch ist die Demilitarisierung der Außenpolitik. Es hat keinen Sinn, sich Frieden zu wünschen. Es kommt so oder so zum Krieg. Georg W. Bushs Wünsche sind stärker als meine: Er hat Laserbomben, ich nur einen Laserdrucker. Ich wünsche mir jedoch, dass Diplomaten es sich abgewöhnen, so zu sprechen, als seien sie Soldaten. Ich wünsche mir, dass Diplomaten den künftigen Frieden definieren, ehe die Generale mit dem Bomben beginnen. Ich wünsche mir Politiker, die wissen, wie man einen Krieg beendet, und nicht nur, wie man ihn beginnt. Ich wünsche mir ein irakisches Offizierskorps, das klug genug ist, seinen verrückten Anführer rechtzeitig zu stürzen. Und dass die Offiziere ihre Möllemann-Schnurrbärte abrasieren.

2. Mein zweiter Wunsch ist, dass Deutschland intelligent regiert wird. Das erfordert vermutlich den Rücktritt von Kanzler Schröder. Wenn es nach mir ginge, sollte das im August passieren, wenn ich Urlaub mache in der Provence. Ich wünsche mir, dass Wolfgang Thierse seinen Bart abrasiert. Ich halte das für den ersten substanziellen Schritt zu einem neuen Deutschland, das prosperiert und Vertrauen zu sich hat. Als Engländer bin ich davon überzeugt, dass wir ein reicheres Deutschland brauchen, um ein reiches, selbstbewusstes Frankreich daran zu hindern, Europa zu regieren. Der größte Bahnhof in London trägt den Namen Waterloo.

3. Mein dritter Wunsch: dass die Deutschen wieder mehr Zeitung lesen. Zu viele Kollegen sind arbeitslos oder nur noch freie Mitarbeiter nahe der Armutsgrenze. Deutschland braucht eine dynamische, expandierende Presse. Ich wünsche mir, dass die Deutschen sich lauter zu Wort melden im neuen Jahr. Dass sie hörbar klagen über die Stagnation in der politischen Klasse. Dass sie das Haar wachsen lassen und Rolling Stones hören.

Zu ehrgeizige Hoffnungen? Etwas mehr demokratische Kontrolle über einen unvermeidlichen Krieg, von dem alle sagen, dass sie ihn nicht wollen. Mehr Mut und mehr intellektuelle Substanz bei der Art, wie Deutschland regiert wird. Eine genauere Beobachtung der deutschen Gesellschaft, die Gefahr läuft, zu einer geschlossenen Gesellschaft statt einer offenen zu werden. Hoffnungslos utopisch? Mag sein. Man kann ja immer noch auf den 1. Januar 2004 setzen – zumindest die unter uns, die den Krieg 2003 überleben.

Der Autor ist Korrespondent der „ Times“.

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