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Ob diese Kinder später einmal am Ende jedes Monats noch ein wenig Geld übrig haben? Möglicherweise werden die Heilkräfte der Bildung überschätzt

© dpa

Chancengleichheit: Grenzen und Möglichkeiten

Die Bürger der USA haben gewählt und in Deutschland fehlen Kitaplätze. Auf den ersten Blick zwei ganz unterschiedliche Ereignisse - doch sie haben etwas gemeinsam.

Von Anna Sauerbrey

Während in den USA die Bürger an die Urnen gingen, gab in Deutschland das statistische Bundesamt bekannt, dass hierzulande 220 000 Kitaplätze fehlen. Die Preisfrage ist, was die beiden Ereignisse gemeinsam haben? Hier gleich die Antwort, keiner soll gezwungen sein, nach der durchwachten Wahlnacht die Zeitung auf den Kopf zu stellen: Beides, die USA und die Kitaplätze, sind Symbole für den Traum von der Chancengleichheit. Und beide Varianten des Traums sind dabei, sich zu verflüchtigen.

Zunächst zu den USA. Die nationale amerikanische Erzählung gründet bekanntlich auf dem Begriff der „opportunity“. In den 60er Jahren erfanden die Amerikaner zudem die „affirmative action“, gezielt wurden diejenigen bei Jobs und Studienplätzen bevorzugt, die benachteiligt waren. Mit gewaltigem Erfolg. Die Situation von Frauen und schwarzen Amerikanern hat sich verbessert. Und beide Präsidentschaftskandidaten waren sich trotz aller ideologischen Unterschiede einig, dass es gelte, die „opportunities“ auch weiterhin zu stärken. „Egal wo du herkommst, du kannst es hier schaffen, wenn du es nur versuchst“, rief Obama seinen Wählern zu.

Einige Soziologen sind allerdings der Meinung, dass in den USA die Chancengleichheit stagniert, ja, teilweise sogar zurückgeht. Der Faktor „Herkunft“ bestimme heute wieder stärker die Lebenschancen. Laut Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Amerikaner, dessen Eltern keinen höheren Bildungsabschluss besitzen, selbst einen solchen erreicht, bei 29 Prozent, einem der schlechtesten Werte unter den OECD-Ländern. Die USA sind ein Land der Möglichkeiten. Der unbegrenzten aber nicht.

Auch im deutschen Bildungssystem wird seit den 60er Jahren versucht, Chancen anzugleichen. Unsere „affirmative action“ hieß Bafög und war ebenfalls erfolgreich. Die Quote der Uniabsolventen ist gestiegen. Doch ebenso wie in den USA scheint das Projekt zu stagnieren. Die OECD beklagt wie jüngst auch die Bertelsmann-Stiftung die mangelnde „Durchlässigkeit“ des Schulsystems. Auch hierzulande entscheidet oft die Bildung der Eltern über den Status der Kinder. Erbdynastien verfestigen sich – auch am unteren Rand der Gesellschaft.

Traditionell wird in Deutschland viel über die Schere zwischen Arm und Reich geklagt. Die Idealvorstellung vieler Deutschen (im Gegensatz zu vielen Amerikanern) ist eine möglichst gleiche Verteilung des Wohlstands.

Wichtiger noch als die Höhe eines Gehalts oder die Verteilung des Wohlstands aber erscheint die Frage, welche Chance jemand hat, sich aus Armut zu befreien. Ein Student hat kaum mehr als ein Hartz-IV-Empfänger. Doch mit einer Perspektive vor Augen ist das erträglicher.

Womit wir wieder bei den Kitaplätzen wären. Möglicherweise werden die Heilkräfte der Bildung überschätzt. Auch bei einer Rundumbespielung bleiben die Eltern ein wichtiger Faktor für die Entwicklung ihrer Kinder. Noch sind die Möglichkeiten, allen gleiche Chancen zu bieten, nicht ausgeschöpft. Außerdem zeigt das Beispiel Amerikas, dass einmal erreichte Verbesserungen nicht von Dauer sein müssen. Das Projekt Kita-Ausbau hat zwischen Finanzkrise, Energiewende und Steuersenkungsträumen ein jämmerliches Schattendasein gefristet. Jetzt, nach dem Koalitionsgipfel, hat die Regierung die Freiheit, dem Projekt wieder Priorität einzuräumen. Eine große Chance.

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