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Meinung: Das Wunder der ausgebliebenen Tat

Ein zweiter 11. September fand nicht statt – war die Bedrohung nicht so groß oder wurde sie so effektiv bekämpft?

Von Christoph von Marschall

Es ist ein Tag des Gedenkens an mehr als 3000 Menschen, die beim schlimmsten Anschlag der Terrorgeschichte starben. Aber heute ist auch ein Tag, an dem wieder Angst aufkommt – die Angst, dass sich Vergleichbares wiederholen könnte, in Amerika, oder auch in Deutschland. Für keinen anderen Tag der vergangenen zwölf Monate haben die Sicherheitsdienste so viele Warnungen für so viele Orte herausgegeben. Die USA haben präventiv ganze Botschaften geschlossen und ihre Bürger gewarnt, sich heute an öffentlichen Plätzen aufzuhalten, die als Treffpunkte von Amerikanern gelten.

Die Gefahr ist heute so groß – wegen der Symbolkraft des Datums. 9/11 ist rund um die Erde zur Chiffre geworden, die jeder versteht. Wenn es den Terroristen gelänge, heute wieder zuzuschlagen, dann bedeutete das: Ihr könnt Euch nicht schützen, nicht mal an dem Tag mit den umfangreichsten Sicherheitsvorkehrungen.

Das Bedrohungsgefühl ist lebendig. Das ist verständlich. Aber keineswegs selbstverständlich. Denn die eigentliche Überraschung ist doch: In den vergangenen zwölf Monaten ist nichts geschehen, was auch nur annähernd an die Dimension des Angriffs auf New York heranreicht. Und nach allem, was man weiß, ist es auch nicht versucht worden. Dabei hatten wir alle – Politik, Geheimdienste, Bürger – unter dem Schock der Bilder des 11. September alles für möglich gehalten. Dass dieses Grauen sich jederzeit und überall wiederholen könnte.

War also die Bedrohungsanalyse falsch, haben uns die Fachleute getäuscht über die Größe der Gefahr, haben wir uns selbst getäuscht, weil sich gezeigt hat: Das Terrornetz ist nicht fähig zu einem Zweitschlag? Oder haben wir die richtigen Gegenmaßnahmen ergriffen: durch schärfere Kontrollen an Flughäfen, härtere Anti-Terror-Gesetze, erhöhte Wachsamkeit der ganzen Gesellschaft, und indem wir ein bisschen Freiheit aufgaben, um mehr Sicherheit zu erlangen? Dann wäre das Ausbleiben des Zweitschlags ein Erfolg der USA und des Westens.

Es spricht weit mehr für die erste Erklärung. Der 11. September war nicht dadurch möglich geworden, dass plötzlich ganz neue Waffen und Angriffstechniken zur Verfügung standen. Den Quantensprung erreichten die Terroristen dadurch, dass sie alte Methoden neu kombinierten: die seit langem erprobte Flugzeugentführung mit dem Selbstmordattentat, einem bis dato auf den Nahen Osten beschränkten Muster. Dieses Prinzip – eine neue Mixtur aus bekannten Zutaten, um einen maximalen Schaden zu erzielen – bietet entschlossenen, „kreativen“ Terroristen eine Fülle von Möglichkeiten. Insofern ist der relative Frieden, den der Westen nach dem 11. September genießen durfte, ein Wunder, das der Erklärung bedarf.

Ja, wir haben die Bedrohung wohl übertrieben. Aber das weiß man eben erst im Nachhinein. Damals, im Angesicht der einstürzenden Türme, gab es keinen Grund, weniger als das Schlimmste anzunehmen. Es ist auch nichts falsch an dieser deformation professionelle von Experten und Politikern, in deren Verantwortung es liegt, uns vor Gefahren zu schützen. Dafür müssen sie immer auch das worst case scenario berücksichtigen.

Zu groß geredet wurden wohl auch die Gegensätze zwischen dem Westen und der islamischen Welt. Die Terroristen haben nur bei wenigen Muslimen nachhaltige Sympathie hervorgerufen, bei der großen Mehrheit dagegen Betroffenheit und Verunsicherung. Für ähnliche Kamikazeangriffe würde sich nur eine kleine Gruppe unter den Hunderttausenden Muslimen weltweit hergeben.

Das alles entwertet aber nicht die Gegenmaßnahmen und Sicherheitspakete. Mehrere Terrorakte mittlerer Dimension wurden verhindert. Eben erst in Heidelberg. Und dank der erhöhten Wachsamkeit der Mitreisenden konnte der Schuhbomber Reid sein Flugzeug nicht in die Luft jagen. Im Netz verstärkter Kontrollen und Kooperationen der Dienste blieben Hinweise auf Verdächtige in den Niederlanden und Schweden hängen, die Flugzeuge kapern wollten. In Dscherba gelang der Gaslaster-Anschlag auf deutsche Touristen. Auch wenn viel dafür spricht, dass wir die Gefahr übertrieben haben: Jeder Tag kann dies widerlegen. Weil es hundertprozentige Sicherheit vor Terror nicht gibt.

Vor allem aber: Auch ein Jahr danach ist es durchaus zweifelhaft, ob der Westen den Charakter der Gefahr, die ihn bedroht, richtig erkannt hat. Womöglich fällt das deshalb so schwer, weil die Strukturen dieses Terrors nicht zu unseren gewohnten Denkmustern passen. Es wird gleichzeitig zu groß und zu klein gedacht. Zu groß: weil der 11. September als Maßstab für die neue Gefahr dient. Und zu klein: weil wir die Bedrohung noch immer einzugrenzen versuchen auf ein organisiertes Terrornetz mit einer irgendwo physisch vorhandenen Zentrale und einer Hierarchie, einem Kopf. Wenn es aber nur Einzeltäter und lockere Gruppen wären, die lediglich ein verwandtes Denken verbindet? Das überfordert unsere Vorstellung; denn wie und wo ließe sich ein so loses Netzwerk bekämpfen?

Die krude islamistische Ideologie ist ebenso leicht zusammenzumixen wie der Sprengstoff in der Heidelberger Wohnung: Hass auf den Westen. Unterlegenheitsgefühle, ein rigides Moralkorsett. Ein headquarter des internationalen Terrors ist nicht nötig, damit Menschen, die so denken, Anschläge nachahmen, die andere vorgemacht haben.

Wenn sich dieser Terror unmittelbar so schwer bekämpfen lässt, wird dann wenigstens an einer politischen Prävention gearbeitet? Im Nahen Osten, der nicht Ursache des Terrors ist, aber ihm Nahrung gibt? Der Frieden ist nicht näher gerückt. Die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte? Da hat es sogar Rückschritte gegeben, die internationale Koalition hat schmerzliche Kompromisse erzwungen, nicht nur in Russland und China. Der Kampf gegen Armut, Hunger und Seuchen? Ohne große Erfolge.

Amerika ist enttäuscht über Europa, weil die alte Welt die neuen militärischen Zwänge nicht akzeptiere, die sich aus dem legitimen Sicherheitsbedürfnis ergeben. Europa wiederum beklagt einen Mangel an neuem Denken in den USA, die bereit sind, das Öl mit Gewalt zu schützen, nicht aber, sich vom Öl unabhängig zu machen. Die Stärke demonstrieren im Kampf gegen Terror, aber Schwächen in der Umwelt- und Entwicklungspolitik.

Ein Jahr danach: Wir können uns unserer Sicherheit nicht sicher sein.

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