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Meinung: Den Alten eine Chance

Roger Boyes, The Times

Es gab ein wenig Zeit über Ostern für die kleinen Dinge, die während des langen und knochenharten Winters vernachlässigt wurden. Margariten wurden auf dem Balkon gepflanzt, der Hund wurde gebürstet und das Adressbuch wurde geflöht. Vier Namen mussten entfernt werden; drei davon starben an Alter oder Krebs. Ein Vierter lebt noch, aber seine Erinnerung ist durch Alzheimer zerstört worden. Wenn ich mir sein Gehirn vorstelle, dann sehe ich einen grünen, fruchtbaren Rasen voller dunkler Maulwurfshügel. Es erschien mir wie ein Hohn, ihn im Adressbuch zu lassen; ich hoffe, er findet eine Art von Frieden außerhalb davon, ungestört von Journalisten.

Die Beziehung zwischen Alter und Arbeit war das Thema der Woche und das nicht nur, weil mein Boss sich über meine Computerfähigkeiten beschwerte. Königin Elisabeth weigert sich, im Alter von 80 Jahren in Rente zu gehen, und die Engländer realisieren, dass die letzte Chance zur Reform der Monarchie uns langsam entgleitet. Prinz Charles, sicher der älteste Praktikant der Welt, hatte anfangs gute Ideen zur Reform des Königtums: Indem er es relevant und interessant machen wollte für junge Leute. Aber während die Königin weitermacht und er immer älter wird, sieht er immer weniger aus wie ein Reformer – ein Teufelskreis. Weil Charles kein klares Konzept mehr für seine Herrschaft hat und seine Autorität durch die Macht der Inaktivität erodiert, hat die Königin das Gefühl, sie habe die Pflicht dranzubleiben, zumindest bis eine Krankheit es ihr unmöglich macht zu arbeiten.

Wie oft kommt dieses Problem in Familienunternehmen, in reichen und armen Familien? Die Alten fürchten sich loszulassen, die Kontrolle an eine andere Generation zu übergeben. Das ist einer der Gründe, warum wir zwingende Rentengesetze haben. In Großbritannien müssen Diplomaten, egal wie kompetent und erfahren sie sind, mit 60 Jahren in Pension gehen. Als Ergebnis kommen Botschafter mit 57 in die stressigste Phase ihres Lebens, weil sie versuchen, einen neuen Job zu finden und sich selbst neu zu erfinden. Die Regeln sind willkürlich. Wer behauptet, Diplomatie sei ein Job für junge Männer? Dasselbe gilt für die ganze Gesellschaft. In Paderborn ging ein 70-jähriger Autoverkäufer vor Gericht, um gegen seinen „betriebsbedingten“ Ruhestand zu protestieren. Er gewann – und kann nun weiter Autos verkaufen, bis er tot umfällt.

Die Lehre, die ich daraus und aus Königin Elisabeths dickköpfigem Verharren auf dem Thron ziehe, ist, dass die Rente eine Sache individueller Verhandlungen sein sollte. Es gibt Momente, wann „Alte“ gehen, und solche, an denen sie bleiben sollten. Aber die Grenze ist für alle eine andere, weil die Bedeutung des Alters so vage geworden ist. Die Faustregel für mich war: Jeder, der 15 Jahre älter ist als ich, ist alt. Als ich 15 war, schienen 30-Jährige zum Gestern zu gehören, als ich 40 war, kamen mir 55-Jährige ausgebrannt vor. Und jetzt? Nun, ich halte es mit Maurice Chevalier: Das Alter ist nicht so schlimm, wenn man die Alternative betrachtet.

Die Gesellschaft muss neue Wege finden, alte Leute einzusetzen, die unser Verständnis von Arbeit nicht verwischen. Die Arbeitswelt muss flexibler werden, sie muss sich einer beschleunigenden Welt anpassen. Also müssen Ältere natürlich öfter Platz für Jüngere machen – aber nicht mit Hilfe eines gesetzlich vorbestimmten Alters. Die Übergabe an folgende Generationen ist zu sensibel, um sie kuhhandelnden Politikern zu überlassen. Ältere müssen die Gelegenheit erhalten, Wissen und Erfahrung weiterzugeben und dafür belohnt und geehrt werden. Warum kann Königin Elisabeth nicht zurücktreten und Teil eines Königsrates werden, der König Charles berät? Warum können „alte“ (das heißt: über 65-jährige) Generäle ihre Ideen nicht der Verteidigungsindustrie zur Verfügung stellen? Warum können Rentnerinnen nicht mit finanziellen Anreizen dazu gebracht werden, Teil des deutschen Kinderbetreuungssystems zu werden?

Die Idee, dass Leute arbeiten sollen, bis sie sterben, wie die Königin (oder der polnische Papst) ist pervers: Das Alter war in Stammesgesellschaften seit der Steinzeit eine Zeit der Reflexion. Auf der anderen Seite ist auch die Idee inakzeptabel, dass Jahrzehnte angehäufter Weisheit einfach auf einem Müllhaufen landen. Das, anstatt der eher sterilen Frage der Kinderlosigkeit, sollte das Thema des Tages sein: Wir brauchen einen Dialog über das Altern, über das Leben nach 50 und nach 70. Wir können nicht in einer Gesellschaft leben, in der die Jungen die „Alten“ als eine Bürde betrachten und in der Jung und Alt sich in einem furchtbaren, selbstzerstörerischen Krieg befinden. Deutschland braucht seine Alten. Nun muss es die notwendige Höflichkeit und Sensibilität finden, diesem Bedürfnis auch Ausdruck zu verleihen.

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