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Meinung: Der blinde Fleck

Die Streitereien zwischen CDU und CSU drehen sich um die offene Frage: Was ist sozial?

In Bayern erfährt die CSU derzeit Widerstand, der fast vergessen macht, wie glanzvoll vor einem guten halben Jahr die Landtagswahl für Stoiber ausgegangen ist. Der einschneidende Sparkurs, den die Landesregierung seither eingeschlagen hat, ist unpopulär – vielen gilt er als unsozial. Da ist es schon putzig, wenn ausgerechnet die CSU mit der größeren Schwesterpartei in einen Wettstreit darüber eintritt, wer der Sozialste im ganzen Land ist.

Friedrich Merz, der gern den Wüterich der Union gibt, ist nicht der Einzige, der sich von solchen Anmaßungen provoziert fühlt, ja, provoziert fühlen muss. Denn was der Steuer- und Wirtschaftsexperte der Union seit dem Herbst des vergangenen Jahres als Eckpunkte eines zukünftigen Regierungsprogramms in die Diskussion eingeführt hat, liegt exakt auf jener Linie, die Stoiber als Kanzlerkandidat im Bundestagswahlkampf 2002 versprochen hatte. Bis an den Rand der Selbstverleugnung hat Merz zudem in den vergangenen Wochen der CSU bei der Suche nach einem kompromissfähigen Steuerkonzept nachgegeben, was diesem Mann, einem Freund der klaren Begriffe, eher wider die Natur geht.

Ähnlich sind bisher die Konfliktlinien zwischen den Unionsschwestern über die Sozialstaatsreform verlaufen: Die CDU ist in die Vorhand gegangen, hat – ungewöhnlich genug für eine Oppositionspartei – ein sehr konkretes und durchgerechnetes Konzept zur Gesundheitspolitik vorgelegt. Die CSU will hingegen, ähnlich wie in der Steuerfrage, ihre eigenen Vorstellungen einfach nicht liefern. Viele der aus Bayern vorgetragenen Kritikpunkte an den Vorstellungen der CDU sind ausgesprochen diskussionswürdig. Der Marktradikalismus, mit dem Angela Merkel das Land auf Vordermann bringen möchte, wird gewiss nicht das letzte Wort der Union im Ganzen sein. Wie aber die programmatische Lücke zwischen reiner Lehre hier und reiner Leere dort überbrückt werden soll, zeichnet sich nirgends ab.

Es greift auch zu kurz, wenn das ewige Thema der Union – ungeklärte Führungsfragen – als Erklärung für die Einigungsnöte bemüht wird. Machtpolitisch ist die Führungsfrage einstweilen entschieden, zugunsten von Angela Merkel. Nein, das Problem der Union mit dem Sozialen liegt sehr viel tiefer. Bis Mitte der neunziger Jahre ließ sich die Frage, was für das Soziale im Unionskonzept sorgt, en passant beantworten: entweder mit den Zuwächsen beim Wachstum oder mit jenen beim Schuldenmachen. Als diese beiden Wege in der letzten Amtszeit Helmut Kohls versperrt waren, versuchte man es mit einer Anleihe aus Clintons Amerika: Sozial ist, was Arbeit schafft.

So klang es noch im Wahlkampf 2002 nach. Allmählich spricht sich jedoch herum, dass auch die klügste Wirtschafts- und Finanzpolitik das Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht in wenigen Jahren abarbeiten kann. Von der Vollbeschäftigung, zwingende Voraussetzung für die hergebrachten Sozialsysteme, redet schon lange niemand mehr als Nahziel der Politik. Sozial, weil sie Arbeitsplätze schafft, bleibt fast nur noch die gnadenlos voranschreitende demographische Entwicklung, die schon in kurzer Zeit die Arbeitslosenzahlen recht freundlich aussehen lassen wird. Nur, dass dies alles nichts nutzt, weil mit der Verschönerung der einen Statistik die Verschlimmerung der anderen einhergeht: Aus Arbeitslosen werden Rentner, Alterskranke und Pflegefälle, ohne dass es ein Mehr an Beschäftigung gäbe, mit dem sich der neu und größer anfallende Sozialaufwand bewältigen ließe.

Hierauf keine Antwort zu haben, das ist das eigentliche Problem der Union mit dem Sozialen. Ob reine Lehre oder reine Leere: Programmatisch ist das Soziale der blinde Fleck beider Unionsparteien.

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Peter Siebenmorgen

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