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Meinung: Der kleine Unterschied am Fuß

Von Pascale Hugues, „Le Point“

An den Schuhen erkennt man den Grad der Emanzipation einer Frau!“, klärte mich Alice Schwarzer eines Tages auf. Es war im August, ich hatte gerade ganz Paris in einem Paar violetter Sandalen mit schmalen Absätzen durchquert, brandneu erworben bei Louboutin, dem Star der französischen Schuhmode. Von einer ebenso erlesenen wie peinigenden Anmut waren diese Sandalen, und der Meister persönlich hatte sie mir ans Herz gelegt: „Warum müssen Frauen immer rennen? Sie sollten sich Zeit lassen, um Paris zu sehen! Dieses Paar hier ist perfekt zum Sitzenbleiben und Träumen“, beschwor er mich. Ich musste an meine Großmutter denken, die immer, wenn sie mir energisch die Haare striegelte, zu sagen pflegte, dass leiden müsse, wer schön sein wolle. Und so verließ ich die Boutique mit einem Paar sublimer Folterinstrumente unter den Füßen, die meinem Gleichgewichtssinn das Äußerste abverlangten. „Frauen drücken sich durch ihre Fußbekleidung aus“, rief mir der SchuhSophist noch hinterher, als er mit souveräner Geste die Tür ins Schloss fallen ließ.

Nach einer Stunde ausgiebigen Flanierens entlang des Seine-Ufers schwammen meine Füße in Blut. Für ein Heftpflaster hätte ich meine Seele verkauft, und als einziges Ausdrucksmittel blieb mir ein Schmerzensstöhnen. Alice Schwarzer zauberte triumphierend ihr linkes Bein unter dem Cafétisch hervor: mumifiziert in einer dicken schwarzen Strumpfhose, darüber die breiten, flachen Treter einer starken Frau ohne Komplexe. Einen klitzekleinen Moment lang hatte ich fast Lust zu tauschen. Aber wirklich nur einen klitzekleinen Moment lang.

„Unsere Schuhe ermöglichen es dem Verbraucher, sich als Individuum auszudrücken“, erläuterte mir letzte Woche Jochen Zeitz, Vorstandschef von Puma. Ich war für ein Interview nach Frankfurt gefahren, meine französische Zeitung wollte eine deutsche Erfolgsgeschichte haben. Diese Exkursion ins Land der positiven Bilanzen und galoppierenden Aktienkurse hatte in diesen Zeiten der Wirtschaftsdepression etwas sehr Erfrischendes. „Puma, Adidas, Nike“, rezitierte mein fünfjähriger Sohn, als ich ihm meine Reise nach Frankfurt ankündigte. Zum Teufel mit all den Präsidenten und Stars dieser Welt, zum ersten Mal in meiner journalistischen Laufbahn war es mir gelungen, meine Kinder zu beeindrucken. „Der Puma-Chef“, flüsterte mein Sohn, den Mund weit aufgesperrt, die Augen groß wie Fußbälle, als hätte ich eine Privataudienz bei einer Gottheit des Olymp erwirkt. Für mein Söhnchen existiert nicht der Schatten eines Zweifels, dass sich im Kindergarten der Grad der Coolness in den Turnschuhen widerspiegelt. Er selbst stolziert in unproportionierten, silberfarbenen Kautschuk-Galoschen umher, die seine süßen Beinchen entstellen und ihn wie eine groteske Comicfigur aussehen lassen. Diese parasitären Monster waren sein innigst ersehntes Geburtstagsgeschenk. Wir haben nachgegeben.

„Wir produzieren Schuhe für junge aktive Menschen, nicht für Couchpotatoes“, versichert mir Jochen Zeitz, der Herrscher des Fun-und-Fitness-Universums. Turnschuhe oder Pumps? Puma oder Louboutin? Lieber durchs Leben joggen oder lieber flanieren? Freiheit oder Sklaverei? Sind Sie sich eigentlich all dieser fundamentalen Fragen bewusst, wenn Sie morgens in Ihre Schuhe schlüpfen? Wissen Sie, dass Sie damit den Rhythmus Ihres Tages versinnbildlichen? Den Grad Ihrer Emanzipation? Dass Sie sich als Frau und als Individuum ausdrücken?

Und wie sieht es mit Ihnen aus, meine Herren Louboutin und Zeitz, Und Sie, Frau Schwarzer? Sind Sie es nicht manchmal leid, die Geheimnisse der Seele in den Fußsohlen suchen zu müssen? Um all diesen existenzialistischen Zerreißproben zu entgehen, gibt es nichts Besseres als – barfuß laufen.

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