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Meinung: Deutsche Politik in der Krise: Was einer Gesellschaft Halt gibt

Haben wir in der deutschen Politik "amerikanische Verhältnisse"? Immer mehr Hektik, immer weniger Konsens?

Haben wir in der deutschen Politik "amerikanische Verhältnisse"? Immer mehr Hektik, immer weniger Konsens? Eine turbulente Woche ist vorbei, in der das Wort "Krise" sehr beliebt war. Zwei Minister sind zurückgetreten. BSE und Uran-Munition jagen den Deutschen einen Schrecken ein. Immer rascher folgt ein Skandal dem nächsten. Der angeschlagene Minister Riester? Vergessen wegen Joschka Fischers Vergangenheit. Fischer selbst? Verschnaufpause nach dem Aus für seine gleichnamige Kabinettskollegin und den Agrarminister.

Die Ausschläge des öffentlichen Interesses sind nicht größer als früher. Doch die Wellen der Aufmerksamkeit sind gestauchter. Wer sich einst von Krise zu Krise schleppte, hechelt heute von Skandal zu Skandal. Der Standort Berlin als Austragungsort für die hohe Politik hat zu dieser Beschleunigung einiges beigetragen. Die Medien auch. Und die Regierung? Sie hinkt hinterher, betreibt Krisenmanagement und sucht symbolische Lösungen. So heißt denn nun das inopportun gewordene Landwirtschaftsressort weniger angsteinflößend "Ministerium für Verbraucherschutz".

Wer sich die vergangenen Jahre über angesehen hat, wie Washington Politik macht, und nun den Blick auf Berlin richtet, dem fällt auf, dass die Amerikaner es zu einer in Deutschland unerreichten Meisterschaft im Umgang mit Kurzkrisen und Sekundenskandalen gebracht haben. Wo die etablierten Werkzeuge der Politik, die Gremien und Institutionen, zunehmend überfordert sind, da hilft ein Präsident, der vor allem Teilhabe und Mitleiden signalisiert. Bill Clinton ist ein Meister hierin; Gerhard Schröder hat diesem Typus erfolgreich nachgeeifert.

Vor allem haben die USA eine Federung gegen allerlei Aufgeregtheiten installiert, die der Bundesrepublik fehlt. Es ist dies eine Einrichtung, die eine einfache Funktion hat. Sie dämpft und beruhigt. Sie heißt: Senat. Zwei Bürger pro Bundesstaat werden direkt gewählt und für sechs Jahre nach Washington entsandt. Dort beraten und beschließen sie - ohne Fraktionszwang, Parteidisziplin oder Landeslisten. Heraus kommt Konsens - im angeblich so zerrissenen Amerika. Ihn suchen und finden vor allem die Erfahrenen, Älteren, Unaufgeregten. Jene, die in Deutschland Ex-Politiker werden und bestenfalls neugegründete Universitäten, ostdeutsche Unternehmen, fragwürdige Talk-Runden oder honorige Verlagshäuser führen.

Die bundesdeutsche Gesellschaft und ihre politische Klasse hat eine erstaunliche und begrüßenswerte Durchlässigkeit für Jüngere entwickelt. Man kann mit 30 Kabinettsmitglied selbst unter Kohl, mit 35 Kanzleramtsminister oder Chefredakteur und mit 40 Konzern- oder Parteichef bei Bertelsmann oder der FDP werden. Die Logik dieser Entwicklung liegt darin, dass Deutschland dringend mehr Amerika, mehr Dynamik, mehr Beschleunigung brauchte. Allmählich wächst die Einsicht, dass auch ein Gegengewicht nötig ist. Doch die vergreisende Gesellschaft Deutschlands hat ausgerechnet ihre Alten aus der Politik hinausgefegt. Dies ist ein Verzicht, den sich die Bundesrepublik nicht leisten sollte.

Wenn Politik von Menschen veranstaltet wird, die ihren Marsch durch die Institutionen als Gruppen-Projekt verstehen, die nicht einer die Generationen überspannenden Kontinuität, sondern einem spezifischen Milieu entstammen und dann gemeinsam aufsteigen, dann fehlt etwas. Amerikas Senat ist seit den 60er Jahren zu einer Institution herangereift, die dem Land Halt gibt. Gerade auch dann, wenn auf den Präsidenten kein Verlass ist, sei es wegen Vietnam, Watergate oder Lewinsky. Einen solchen Anker in der eigenen Geschichte hat Deutschland nicht. Brauchen könnten wir ihn. Gerade in Zeiten, wenn niemand weiß, ob Krisen wirklich Krisen sind.

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