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Deutschland 2010: Keiner bringt das Feuer

Wo sind die Guten? Die, denen man noch unbesorgt seine Kinder, seine Steuern, seine Seele anvertrauen wollte? Die nicht betrunken Auto fahren oder Finanzkrisen auslösen oder Kinder misshandeln oder Schwarzgeld in die Schweiz bringen? Wo sind die, die Verantwortung übernehmen und das Land regieren, die keine Debatte über den Sozialstaat anzetteln, sondern ihn ohne viel Geschrei sanieren? Wo sind sie, denn wohin man schaut: Scheitern und Schuld, Dilettantismus und Dekadenz.

Die Nation wirkt überfordert. Wie die Katholiken und Protestanten, wie die Banker und der Deutsche Fußball-Bund, wie natürlich auch die Medien und wie die Opposition ist diese Regierung vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die Spitze des Landes, nicht nur die politische, ist abgelenkt – getrieben von Ereignissen, die sie nicht mehr unter Kontrolle bringt. Die Kraft reicht gerade noch fürs Heute und für das schnelle Plagiat. Von einer entfesselten Angela Merkel und der geistig-politischen Wende Guido Westerwelles ist nichts zu spüren, von Kirchen, die Orientierung geben, auch nichts. Statt Gestaltung überall nur Abwehrkampf. Selbst Guttenberg, der doch so gut sein will, läuft längst diesem Ereignis in Afghanistan hinterher. Nun muss der Bundestag klären, was der vermeintlich nächste Bundeskanzler selbst nicht klären konnte.

Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte, hieß so, weil er vorausdachte. Sein Bruder hieß Epimetheus, weil er den Dingen nur hinterherzudenken vermochte. Offenbar ist das Land in einer epimethischen Phase, was war, gilt nicht mehr, was kommt, weiß keiner. Was gut ist und was schlecht, was links und rechts, was vorwärts und was rückwärts, weiß kaum noch jemand darzustellen. Dem medialen Druck, das Leben auf grelle Momentaufnahmen zu reduzieren, hat keiner mehr etwas entgegenzusetzen, weder der Politiker noch ein DFB-Chef. Die Familienministerin twittert und verhackstückt ihre Politik ganz freiwillig in Dreizeiler ohne Vergangenheit und Zukunft. So erstarrt alles verantwortungsvolle Handeln. Rettung, und das dokumentiert die Hilflosigkeit der Führungsriege, soll von den Weisen und Naiven kommen: Die SPD hört auf den 91-jährigen Helmut Schmidt und der Außenminister auf den 82-jährigen Hans-Dietrich Genscher; zugleich bauen die 30-Jährigen voller Unbefangenheit das Gesundheitssystem um. Und zwischendurch wechseln die Parlamentarier ihre Partei, wie gerade in Berlin, weil sie selbst nicht mehr wissen, wohin sie gehören.

In den vergangenen Jahren lag Angela Merkel wie ein Alligator in der Sonne, ohne sich zu rühren. Ihre Bewegungslosigkeit war Drohung und Versprechen zugleich. Nun regnet es, und sie liegt immer noch da. Merkel ist keine, die das Feuer bringt, und auch sonst ist keiner in Sicht: Bereits jetzt entziehen sich die Wähler ihrer eigenen Verantwortung für den Wahlausgang im vergangenen September. Laut Umfragen wäre den meisten nun eine große Koalition lieber. Auch der Wähler ist offenbar überfordert.

Im Moment, so scheint es, vermag niemand in diesem Land die intellektuelle Deutungshoheit über Gut und Schlecht auszuüben und einen Kontext zu vermitteln. Damit verschwinden die Maßstäbe, damit verschwinden die Guten. Und in einem solchen gesellschaftspolitischen Vakuum gelangen mitunter die falschen an die Spitze. Epimetheus war der, der die Büchse der Pandora geöffnet hat.

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