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Deutschland und die EU: Immer weniger Europa

Deutschland profitiert von der EU, will sie aber nicht mehr führen. Das neue Deutschland ist munter dabei, sich in einer europäischen Opferrolle zu verschanzen.

Strotzend vor Export-Erfolg scheint das seit 20 Jahren wiedervereinigte Deutschland sich zu neuen globalen Ufern aufzumachen. Jedenfalls wächst das neue Deutschland sichtlich aus dem europäischen Haus heraus. Die alten Paradigmen bundesdeutscher Außenpolitik – europäische Integration und transatlantische Beziehungen sind zwei Seiten derselben Medaille – sind nicht nur verstaubt: Sie sind nicht mehr präsent in der außenpolitischen Debatte Deutschlands, die sich derzeit irgendwo zwischen China und Sitz im Sicherheitsrat bewegt.

Na schön, mag man sagen und sicher, ein Tor, wer Schlechtes dabei denkt! Und doch wäre es schön, wenn dieser Berliner Paradigmenwechsel wenigstens öffentlich eingeläutet, ein neues strategisches Konzept sichtbar, eine außenpolitische Debatte geführt würde. Und wenn man in Berlin vor allem einmal berechnen würde, was ein Weniger an Europa langfristig so kosten könnte.

Was derzeit geschieht, lässt sich am besten so beschreiben: die tektonischen Platten der europäischen Geostrategie von Jalta und Maastricht, die einmal 1949 und einmal 1989 eingerastet sind, brechen auf: Mit Blick auf Jalta ist die immer noch Nato-dominante Struktur des europäischen Sicherheitsarchitektur zunehmend dysfunktional für die Interessen der Europäischen Union, die ein anderes Verhältnis zu Russland braucht, als die Nato es bieten kann. Die Nato, obgleich außerhalb Europas unabdingbar, ist für regionale Konfliktlösungen im eurasischen Raum – siehe Georgien und Transsinistrien – nicht mehr geeignet. Die EU muss sich dort selbst behaupten.

Mit Blick auf Maastricht wiederum wird der Preis für Europa, genauer: der Preis für den Euro, noch genauer: der Preis für den europäischen Rettungsschirm – gerade neu verhandelt. Für beides ist Deutschland zentral, denn sowohl Jalta als auch Maastricht wurden im Wesentlichen für und um Deutschland herum gebaut. Deshalb ist Berlin jetzt besonders gefragt, wenn es um die Gestaltung einer Post-Jalta und Post-Maastricht-Ordnung geht. Aber das neue Deutschland hat sich augenscheinlich noch nicht entschieden, ob es die europäische Ordnung verantwortungsvoll ins 21. Jahrhundert führen möchte - oder ob es aus den europäischen und globalen Um- und Aufbrüchen nur einen nationalen Vorteil schöpfen und alleine in die weite Welt ziehen will. Es hat vor allem noch nicht verstanden, dass Letzteres langfristig nicht gehen wird.

Das neue Deutschland ist munter dabei, sich in einer europäischen Opferrolle zu verschanzen. Elemente dieser Opferrolle sind die jüngste „Griechenland-Betrugs“-Debatte oder die andauernde „Nettozahler“-Debatte. Aus all diesen Debatten schallt ein deutsches „genug“ heraus. 20 Jahre nach der Wiedervereinigung möchte Deutschland, so scheint es, den Preis für Europa neu verhandelt wissen: Die deutsche Geschichte soll nicht mehr ewig für unbegrenzte Solidarität mit Europa herhalten müssen.

Das ist richtig. Es übersieht aber dreierlei: Erstens, Europa ist der Ast, auf dem Deutschland sitzt. Zweitens, für alle anderen Staaten in Europa ist Deutschland derzeit nicht das Opfer, sondern ökonomisch der größte Gewinner von Binnenmarkt und Euro.

Und drittens: Deutschland sollte begrenzt mit Europa solidarisch sein, und zwar nicht aus Altruismus, sondern aus eigenem wohlfeilen Interesse. Europa braucht eine Solidarunion, freilich keine Transferunion – die Forderung nach einem Insolvenzrecht für europäische Staaten ist durchaus rechtens. Diese feine Grenze zu ziehen und öffentlich zu thematisieren, wäre jetzt die Aufgabe in Berlin. Es besteht indes die Gefahr, dass dies aus Angst vor Vox populi nicht bewältigt wird. Dabei muss die Bundesregierung seinen Bürgern dringend die Vorteile von Europa und Euro darlegen. Denn nur ein Deutschland, das aus seiner europäischen Opferrolle herausfindet, kann Europa in eine globale Zukunft führen.

Die Autorin leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations.

Ulrike Guérot

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