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Meinung: Deutschlands vergessene Kinder

Wir brauchen ein Frühwarnsystem bei Misshandlungen

Von Daniel Dettling In diesem Jahr wurden in Deutschland rund 700 000 Kinder geboren. Nicht jedes wächst unter idealen Umständen auf und erfährt die nötige Pflege und Liebe, die es vor allem in den ersten Jahren braucht. Die Erziehung obliegt in erster Linie den leiblichen Eltern. Erst wenn sie ihr Recht und ihre Verantwortung nicht wahrnehmen und dabei das Wohl des Kindes gefährden, kann, ja muss der Staat eingreifen. Oft geschieht dies zu spät, wie zuletzt beim kleinen Kevin in Bremen. Der Tod des zweijährigen Kindes hat die Debatte um ein effektives und frühzeitiges Hilfssystem auf die politische Agenda von Bund und Ländern gesetzt. Wie könnte eine Lösung aussehen?

Mehr als 90 Prozent der Kinder nehmen an Vorsorgeuntersuchungen bislang teil. Aber wo sind die restlichen knapp 60 000, warum kommen sie nicht? Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann schätzt die Dunkelziffer der konkret gefährdeten Kinder auf 80 000. Diese Zahl korreliert mit einem anderen problematischen Befund. Dem Anteil der Kinder in armen und sozialhilfebedürftigen Familien. Beides, Misshandlungen und Armut bei Kindern, hat in den letzten zehn Jahren zugenommen. Die Dunkelziffer ist hoch, weil verlässliche Daten zur Anzahl gefährdeter Kinder nicht vorliegen. Das Berliner Landeskriminalamt verzeichnet ein Plus der Fälle von 18,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Es sind daher nicht nur Kompetenz- und Fachstreitigkeiten, um die es geht. Selbst wenn alle Kinder an den ärztlichen Frühuntersuchungen teilnehmen, ist nicht gesagt, dass Kindesmisshandlung nicht mehr stattfindet. Eltern, die ihre Kinder vernachlässigen oder misshandeln, entwickeln geschickte Strategien. Vor Untersuchungsterminen werden sie entweder bewusst von Gewalt gegen ihre Kinder Abstand nehmen oder sie versuchen, sie zu verbergen. Kinderärztinnen und -ärzte können auch nur die Misshandlungen oder Vernachlässigung feststellen, die bereits passiert sind. Die Frage, ob die Teilnahme an Kinderuntersuchungen zur Pflicht werden soll, ist daher in erster Linie eine gesellschaftliche. In den nordischen Ländern gehört die Teilnahme zum guten Ton. Wer nicht kommt, wird von den Ämtern angerufen oder aufgesucht.

Bisherige Modelle und Initiativen verdienen öffentliche Unterstützung und Nachahmung. Sie werden aber eine bessere und flächendeckende Vernetzung und Zusammenarbeit der Gesundheitsdienste und Jugendämter nicht ersetzen können. Ohne eine solche bleiben sämtliche Modellprojekte und Programme föderales Flickwerk. Ein Umzug genügt und das misshandelte Kind fällt aus dem System. Der Fall Kevin in Bremen hätte laut Abschlussbericht verhindert werden können, wenn der Austausch der Informationen zwischen den Behörden funktioniert hätte. Staatsversagen: Die Verwaltung wusste in diesem Fall schlicht nicht, was sie hätte wissen können und müssen. Das komplexe Hilfssystem muss transparenter und übersichtlicher werden.

Ein standardisiertes und einheitliches Frühwarnsystem fehlt zwischen Bund und Ländern. Dieses wird neben den bekannten Risikofaktoren eine Gruppe beachten müssen, die bislang bekannte Programme und Modellvorhaben nicht in den Blick genommen haben: von Armut betroffene Kinder und ihre Eltern beziehungsweise Erziehungsberechtigte und im Haushalt lebende Erwachsene. Politisch nicht korrekt, aber empirisch belegt ist der Zusammenhang zwischen Armut und Elterngewalt.

Eine verlässliche und kontinuierliche Berichterstattung über Kindesmisshandlung ist daher dringend geboten. Bund und Länder sollten jetzt die Voraussetzungen für ein effektives und nationales Frühwarnsystem schaffen und die Daten der beteiligten Ämter zentral zusammen fassen. Deutschland ist eines der wenigen westlichen Länder, das keine nationale Statistik und Datenlage zur Kindeswohlgefährdung hat. Die Ursache liegt in einem falschen Verständnis von Föderalismus und politischer Korrektheit. Nicht der „Überwachungsstaat“ ist das Problem, sondern eine Verwaltung, die nicht weiß, was sie wissen könnte, weil sie unkoordiniert arbeitet.

Der Autor leitet den Think Tank Berlinpolis.

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