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Meinung: Die Kehrseite Gottes

Karikaturenstreit und Bilderverbot konfrontieren uns mit einem wütenden Bekenntnis zu einem „Heiligen“

Noch schlimmer als Besatzung, Aneignung von Ölraffinerien und Unterstützung der „Zionisten“ scheint derzeit in der islamischen Welt die mangelnde Bereitschaft westlicher Regierungen zu sein, sich für das zu entschuldigen, was sie gar nicht begangen haben: die Publikation von Karikaturen des Propheten Mohammed. Und so brennt vom Hindukusch bis nach Indonesien der Danebrog, die rote Fahne mit dem dünnen weißen Kreuz, während sich die westliche, für zivilisiert haltende Welt gruselt und – durchaus zu Recht – um ihre Meinungsfreiheit besorgt ist.

Ein soziologisch gebildetes Publikum weiß natürlich, dass gleiche soziale Handlungen unterschiedliche Ursachen haben und dass sich das, was man als komplexe Modernisierungskrise bezeichnen könnte, in Afghanistan anders äußert als in Ägypten, am Golf anders als im Maghreb. Ganz zu schweigen von den prekären Lebensverhältnissen muslimischer Immigranten in den Vororten von Paris, den niedergehenden Industriestandorten im Norden Englands oder eben dem Stadtrand von Kopenhagen. Tatsächlich: Nicht überall, wo Religion reklamiert wird, geht es auch um den Glauben. Wenn es also nicht die Allerweltsursache „Modernisierung“ ist, woher rührt sie dann, die Erregung islamischer Massen?

Wir müssen zur Kenntnis nehmen: In dieser auch künstlich aufgestachelten Erregung wird die westliche Welt mit einem Wiedergänger, einem nur scheinbar abgelebten Teil ihrer eigenen Vergangenheit, konfrontiert: mit dem wütenden Bekenntnis zu einem Unantastbaren, einem „Heiligen“, einem Bekenntnis zu dem, was neben Kunst, Philosophie und Christentum eben auch zu den Fundamenten Europas gehört – dem Bilderverbot. Es ist uns ganz nahe.

Als vor Jahren in Paris Martin Scorseses Film über die letzten Tage Jesu aufgeführt werden sollte, drohten katholische Integristen mit Bombenattentaten, weil im Film Jesus beim Liebesakt mit Maria Magdalena gezeigt wurde. Vor zwanzig Jahren verhinderten in Frankfurt am Main jüdische Demonstranten die Aufführung eines Stückes von Rainer Werner Fassbinder, weil es in ihren Augen antisemitisch war. In Deutschland ist schließlich die öffentlich geäußerte Behauptung, in Auschwitz seien keine Juden umgebracht worden, nicht strafbar, weil sie falsch ist, sondern weil sie die Würde der überlebenden Opfer verletzt. Und nun: Geht es den gewalttätig demonstrierenden Muslimen darum, dass der Prophet überhaupt abgebildet wird, dass er satirisch abgebildet wird oder darum, dass es Ungläubige sind, die dies tun?

Ausnahmslos alle Gesellschaften kennen so etwas wie einen unantastbaren symbolischen Kern, ihr Heiligstes. Dass das Bilderverbot in der Bibel, in den zehn Geboten, steht, ist bekannt. Weniger bekannt ist freilich, dass auch die großen Philosophen Griechenlands die Abbildung Gottes moralisch verwerflich fanden. Im sechsten Jahrhundert vor der Zeitrechnung stellte ein gewisser Xenophanes von Kolophon fest, dass Pferde, Löwen und Rinder, so sie Hände hätten, ihre Götter eben in Gestalt von Pferden, Löwen und Rindern abbilden würden. Zweihundert Jahre später wollte der große Platon Kindern am liebsten die Lektüre von Odyssee und Ilias verbieten; zeichnen sie doch ein Bild von Gott, das seiner Idee nicht entspricht. Wie kann man den wahren, unwandelbaren und erhabenen Gott mit den als Lügnern, Betrügern und Ehebrechern bekannten Olympiern in einem Atemzug nennen?

Die jüdisch-christliche Tradition unterscheidet sich davon zunächst darin, dass in ihrer Bibel der eine Gott sich zwar wie ein handelnder und leidender Mensch verhält, aber eben nicht wie ein Mensch aussieht und sich jeder Sichtbarkeit entzieht: „Mein Angesicht kannst du nicht schauen“, lässt Gott den Moses auf dem Sinai wissen, „denn kein Mensch sieht mich und bleibt am Leben.“ Immerhin verheißt Gott einen gewissen Trost: „Wenn dann meine Herrlichkeit vorüberzieht … will ich meine Hand über dich decken, bis ich vorübergegangen bin. Wenn ich meine Hand zurückziehe, wirst du meine Rückseite sehen.“ (Ex 33, 20 – 23) Doch so klar ist das biblische Verbot nicht: Steht doch im Buch Genesis geschrieben, dass Gott den Menschen „in seinem Bilde schuf“. (Gen 1, 27) Im hebräischen Urtext steht für „Bild“ freilich „Zelem“, was so viel wie „Schatten“ heißt. Erst die zweihundert vor Chr. entstandene griechische Bibelübersetzung, die Septuaginta, spricht vom „Eikon“ Gottes, und das heißt nun wirklich „Abbild“. Dennoch, die zehn Gebote haben das Bilderverbot schließlich kodifiziert: „Du sollst dir kein (geschnitztes) Bild machen.“

Der in den zehn Geboten angeordnete Kampf gegen die Götzenbilder hat die Könige und Propheten des alten Israel noch Jahrhunderte beschäftigt. Die Weise, in der sie sich – gerade die Frömmsten unter ihnen – gegen die Bilder gewandt haben, erweist sich aus heutiger Sicht als Ausbund an Intoleranz. Sei es, dass der Prophet Jeremias im sechsten Jahrhundert wider judäische Frauen wettert, die eine „Himmelskönigin“ durch das Backen von Kuchen verehrten; sei es, dass der gerechte König Josija die Statuen von Pferden beseitigte, die andere Könige von Juda zu Ehren der Sonne am Eingang des Tempels errichtet hatten; sei es, dass Josija sogar jene Bilder, die sein großer Vorgänger Salomo in diplomatischer Klugheit zu Ehren der Götter anderer Völker aufgestellt hatte, verunreinigen ließ. Nach diesem Reinigungs- und Verunreinigungswerk gründete Josija das Judentum als Religion des Buches und des unsichtbaren Gottes auf den Trümmern der israelitischen Volksreligion.

Mit dem Christentum schien den Bildern endlich Gerechtigkeit zu widerfahren: Wenn es Gott selbst gefiel, sich in Christus als Mensch sinnlich erfahrbar zu machen, so argumentierte im achten Jahrhundert der Theologe und christliche Araber Johannes aus Damaskus – wer sind dann die Menschen, dass sie sich dem versagen?

Freilich, der Anfang der christlichen Religion war von einer Bilderfeindlichkeit geprägt, die den alttestamentlichen Propheten in nichts nachstand. Der Apostel Paulus selbst verkündete es den ungläubigen Griechen mitten in Athen: „Sind wir also Gottes, so dürfen wir nicht meinen, das Göttliche sei gleich dem Gold, Silber oder Stein, durch menschliche Kunst oder Gedanken gemacht.“ (Apg. 17, 29) Der Evangelist Johannes sah das nicht anders. Dass Gott, der Vater nur im Geist und in der Wahrheit anzubeten ist, war ihm selbstverständlich. Das galt ihm auch für den Sohn. Der sprichwörtlich gewordene ungläubige Thomas kommt im Johannesevangelium nicht eben gut weg. Um an Jesu Auferstehung glauben zu können, wollte er seine Finger in die Wundmale des Auferstandenen legen, was Jesus zwar zuließ, ihm dafür jedoch mitteilte: „Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben.“ (Joh 20, 29)

Und so ging es weiter. Im achten Jahrhundert lieferten sich in Byzanz Bilderverehrer und Bilderfeinde mit fein ziselierten Argumenten wie mit schweren Waffen einen Bürgerkrieg über die Frage, ob etwa in der Hagia Sophia Bilder von Christus aufgehängt werden dürften. Während der Reformation wurden in Münster, in Zürich und in Straßburg Heiligenbilder und Grabfiguren verbrannt und zerstört. Eine beliebte Methode war es, den Figuren Kopf und Hände abzuschlagen, um ihre Machtlosigkeit zu demonstrieren.

Der Islam, damals bereits eine Weltreligion, die zumindest in Persien und Indien Abbildungen von Menschen und Tieren, ja sogar vom Propheten ohne Antlitz zuließ, entstand neunhundert Jahre früher auf der arabischen Halbinsel aus einem dort beheimateten Judenchristentum, das noch dem Bilderverbot verpflichtet war. Dass Gott nicht abgebildet werden darf, war dem Stifter dieser Buchreligion, dem Propheten Mohammed, unzweifelhaft. Aber darum geht es heute nicht. Warum und woher das Verbot, den Propheten selbst abzubilden? Man kann es drehen und wenden, wie man will, im Koran wird man kein ausdrückliches Bilderverbot finden. Allenfalls lässt sich aus den dortigen Beteuerungen über die unermessliche Größe und Güte Gottes indirekt schließen, dass dieser Gott in endlichen Abbildungen gar nicht gefasst werden kann und jeder Versuch, dies zu tun, seine Würde verletzt. Dieser Überzeugung entstammt letztlich die großartige Ornamentalkunst des islamischen Orients. Zudem finden sich in weiteren Überlieferungen Aussagen, wonach sich die Engel weigern, Tempel mit Statuen zu betreten. Beleg für ein Bilderverbot? Nicht wirklich und auch nicht radikal.

Manche islamischen Strömungen nehmen es mit dem Bilderverbot ohnehin nicht so genau: Im Schiismus ist es geradezu üblich, Mohammeds von seinen islamischen Feinden bei Kerbela getöteten Nachfahren Hussain als Schmerzensmann ebenso farbig und drastisch abzubilden, wie die spätmittelalterliche christliche Kunst den Schmerzensmann Jesus zeigte.

Im muslimischen Verbot, den Propheten abzubilden, kommen zwei ursprünglich nicht miteinander verbundene Tendenzen zusammen: erstens die allgemein menschliche Tendenz, das, was man für heilig und unantastbar hält, vor Verunreinigung zu schützen. Menschen sind im Kampf für die Bilder ebenso gestorben wie im Kampf gegen sie. Zweitens wird die im Bilderverbot allen Menschen Hoffnung verheißende Freiheit und Gerechtigkeit Gottes gerade dadurch beglaubigt, dass er allen menschlichen, letztlich magischen Bemächtigungsversuchen entzogen ist. Hegel hat diese Form des Glaubens an einen allem überlegenen und unendlich fernen Gott als „Religion der Erhabenheit“ bezeichnet. Allerdings: In ihrem Bedürfnis nach Nähe und Zuwendung, nach Fassbarkeit und fühlbarer Liebe sind nur die wenigsten Menschen in der Lage, diesem unsichtbaren Gott wirklich zu vertrauen. Sie sehnen sich nach einem gütigen, verständlichen Antlitz: im Christentum dem Antlitz Jesu, dem mütterlichen Lächeln oder Weinen der Maria, im orthodoxen Judentum in weiten Teilen von bärtigen Rebbes, von Zaddikim, im schiitischen Islam von Ali und seinen Nachfolgern, den Imamen. Aber wie ist es im strengen, im sunnitischen Islam? Wo bleibt dort die Nähe zu Gott? Kann die Nähe zum Propheten die Nähe zu Gott ersetzen? Das scheint nicht der Fall zu sein. Angeblich rührt nämlich das Verbot, Mohammed abzubilden, aus der Angst, er könne anstatt Gottes verehrt werden. Das Problem der allzu menschlichen Sehnsucht nach Nähe ist damit nicht gelöst, sondern fast unerträglich verschärft.

Diese Spannung ist nirgendwo so überzeugend zum Ausdruck gebracht worden wie in der modernen Musik des zwanzigsten Jahrhunderts. Arnold Schönbergs Oper „Moses und Aron“ trägt den Konflikt aus zwischen Aron, jenem Führer, der dem Volk Bilder und Vorstellungen geben will, und Moses, der nur auf einen gestaltlosen Gedanken vertrauen will und ihm dennoch nicht genügen kann. Am Ende des zweiten Aktes klagt Moses zu den fahlen Klängen von Schönbergs Zwölftonmusik: „Unvorstellbarer Gott! Unaussprechlicher, vieldeutiger Gedanke... So habe ich mir ein Bild gemacht, falsch, wie ein Bild nur sein kann! So bin ich geschlagen… O Wort, du Wort, das mir fehlt.“

Die deutsch-jüdischen Philosophen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben das hinter dem Bilderverbot stehende Problem in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ so exakt erfasst wie vermutlich niemand vor ihnen: „Gerettet wird“, heißt es dort lakonisch, „das Recht des Bildes in der treuen Durchführung seines Verbots.“

Schönberg, Adorno, Horkheimer: Sind diese Namen nicht zu viel der Ehre für die verwirrten jungen Männer in Gaza, die mit ihren Kalaschnikows herumfuchteln, oder für den eifernden iranischen Außenminister? Politisch, darüber darf kein Zweifel bestehen, hat sich angesichts der Karikaturen niemand zu entschuldigen. Jedes Zurückweichen führt in den Defätismus. Will man aber langfristig den Dialog mit jener letzten „Religion der Erhabenheit“, dem Islam, so führen, dass sich dessen tiefste theologischen Motive mit unserer Kultur individueller Menschenrechte versöhnen lassen, dann führt kein Weg daran vorbei, in der vermeintlich so anderen Kultur nicht nur die eigene Vergangenheit, sondern auch die Züge der eigenen Gegenwart zu erkennen. Das weiß man in den USA besser als in der europäischen Provinz – Dänemark ist für sie nur ein anderer Name.

Micha Brumlik

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