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Meinung: Die Rampe

Von Roger Boyes, The Times

Natürlich sind die Geräusche andere. Das Quietschen der Bremsen ist nur eine Art mechanischer Protest, kein Vergleich zu einem menschlichen Schrei. Wer Durst hat, wendet sich an den Schaffner. Die Waggons sind eher überhitzt als unterkühlt. Niemand stirbt heutzutage auf der Zugfahrt von Berlin Grunewald nach Auschwitz. Trotzdem ist es eine Reise wie in einem Geisterzug. Jedes Ruckeln, jeder unangekündigte Halt lässt einen erschaudern.

45 Minuten braucht man mit der S-Bahn von Grunewald nach Lichtenberg. Elf Stunden nach Krakau, eine weitere nach Auschwitz. Die Juden, die auf die Grunewaldrampe getrieben wurden, brauchten drei Mal so lang. Diese furchtbare Reise heute nachzuvollziehen, ist sehr schwer, aber nicht unmöglich. Eines der eindrucksvollsten jüdischen Mahnmale in Berlin, vielleicht in ganz Deutschland, hilft dabei: die Grunewaldrampe. Auf der einen Seite blickt man auf eine Mauer. Auf ihr sieht man die eingehauenen Umrisse gebückter, bereits übermüdeter Menschen auf dem Weg zu den Viehwaggons. Das Mahnmal, gestaltet vom polnischen Künstler Karol Broniatowski, ist schlicht und eindrucksvoll.

Am Ende der Rampe gelangt man auf Gleis 17. Ein Eisenbahngleis, das ins Nichts führt, zugewachsen mit Birken – den Bäumen, die Auschwitz-Birkenau den Namen gaben. Auf den Bahnsteigkanten sind schwere Metalltafeln eingelassen, mit schweren Wörtern und schweren Ziffern. Sie zeigen an, wie viele Juden an welchem Tag deportiert wurden.

Ein Wahnsinn: bis März 1945 deportierten die Nazis von diesem Ort aus Berliner Juden. Letzte Woche hat jemand eine Kerze und einen Stein auf die Tafel vom Februar 1945 gelegt – vielleicht ein Verwandter. Es gibt vieles, was einem zu denken gibt, hier auf der Rampe.

Aber nicht mehr lange. Die Deutsche Bahn will 100 Villen auf dem Gelände hinter der Rampe bauen lassen, wohl für superreiche Berliner, die es lieben, wenn den ganzen Tag Züge an ihren Vorderfenstern vorbeirauschen. Ich habe in den vergangenen Jahren gelernt, mit den Verschrobenheiten der Bahn zu leben – mit ihrem perversen Preissystem, mit ihren höchst erfinderischen Erklärungen für verspätete Züge, mit ihrem gelangweilten Personal. Wenn sie nun unbedingt Häuser bauen will, die kein normaler Mensch kaufen möchte, na gut. Das ist eine Privatangelegenheit zwischen der Bahn und dem deutschen Steuerzahler und geht mich nun wirklich nichts an.

Um nun aber einen besseren Zugang zu diesen unverkäuflichen Villen zu schaffen, will die Bahn die Grunewaldrampe erweitern. Wie sollen sonst Lastwagen zu den neuen Geschäften kommen, die die nicht existierenden Villenbesitzer versorgen sollen?

Ach ja: Und hatte ich erwähnt, dass neben der Rampe auch noch ein Supermarkt entstehen soll? Das Café Floh – ein stimmungsvolles altes Pumphaus – wird für die Straßenverbreiterung abgerissen.

Die Rampe ist ein historisches Monument. Sie ist ein Ort, der Menschen Emotionen nachfühlen lässt und bewegt. Seine Ausstrahlungskraft hängt ab von der Stille – und von der Umgebung, die uns einen Ort gibt zur Reflexion. Bald tritt diese Reflexion in den Wettstreit mit dem Lärm von Lastwagen. Die Vorstellung ist ungeheuerlich.

Die Deutsche Bahn täte gut daran, sich ihrer Vergangenheit bewusst zu werden. Ihre Vorgängerin, die Deutsche Reichsbahn, spielte bekanntlich keine ruhmreiche Rolle bei Hitlers „Umsiedlung“ der Juden. Irgendjemand hat irgendwo einen furchtbaren Fehler gemacht: auf Kosten der Erinnerung an die Berliner, die in Auschwitz ihr Leben verloren. Auf Kosten der Stille der Rampe. Und der historisch richtigen räumlichen Dimension eines Gedenkortes, die bewahrt werden muss.

Das Baugelände ist jetzt eingeebnet und zur Bebauung vorbereitet. Noch ist Zeit, diesen absurden Plan zu stoppen.

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