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Meinung: Die Sehnsucht siegt

Der Wandel in der arabischen Welt ist trotz aller Rückschläge nicht zu stoppen

Im Arabischen Frühling wollen die Temperaturen nicht mehr so recht steigen. Nach den spektakulären Volkstriumphen in Tunesien und Ägypten ist der revolutionäre Schwung ins Stocken geraten. Libyens Gaddafi schießt seit Wochen unbeirrt von weltweiter Empörung und alliierten Lufteinsätzen auf sein rebellisches Volk, Syriens Assad belagert mit Panzern die aufmüpfigen Städte. Und ob die unter Vermittlung Ägyptens zu Stande gekommene Einigung zwischen Hamas und Fatah Bestand haben wird, ist keineswegs sicher.

Vier Monate nach der spektakulären Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi in Tunesien hat sich der Nahe und Mittlere Osten in eine andere Welt verwandelt, längst jedoch nicht in eine, die sich Millionen junger Menschen bei ihren Facebook-Revolutionen erträumten. Die verbliebenen Regime wehren sich immer erbitterter. Die Könige Marokkos und Jordaniens bieten Machtverzicht in Millimetern. Saudi-Arabiens Monarch versucht, seine Untertanen mit 110 Milliarden Dollar Sozialgeschenken einzulullen.

Kein Wunder, dass dieser Tage viele Augen auf Ägypten schauen. Seine Bevölkerung hat Hosni Mubarak in 18 Tagen davongejagt, kürzlich dem zögernden Militärrat Arrest und Ermittlungen zu Mubaraks Verantwortung für Schießbefehl und Korruption abgetrotzt. Wie in Tunesien ist die allmächtige Regierungspartei aufgelöst.

Und so sind Ägypten und Tunesien die Ersten in der Region, deren Völker sich tatsächlich als Subjekte ihrer Geschicke fühlen. Noch nie haben die Menschen am Nil politisch so intensiv und ernsthaft diskutiert wie dieser Tage. Sie streiten über die Fundamente ihres neuen Staats und wachen gleichzeitig penibel über die teuer erkämpften demokratischen Errungenschaften. Zum Jahresende wird Ägyptens Volk einen neuen Präsidenten wählen – den ersten demokratisch gekürten Staatschef in 5000 Jahren Geschichte.

Gleichzeitig aber offenbaren die ersten nachrevolutionären Monate, wie lange und steinig der Weg zu einer offenen Gesellschaft noch sein wird. Streiks allerorten drohen die beiden Vorreiternationen in den wirtschaftlichen Abgrund zu ziehen. Tunesiens Premier rief dieser Tage seine Bevölkerung zu Mäßigung und Toleranz auf. In Ägypten endet mancher Meinungsstreit in Prügel oder Messerstecherei. Denn kaum war die große Verbrüderung auf den Straßen verflogen, traten die alten Probleme wieder an die Oberfläche. Zwanzig Prozent der Menschen am Nil haben keinen Job, 50 Prozent leben in Armut. Eine würdige Arbeit aber gehört genauso zur gesellschaftlichen Teilhabe wie ein Stimmzettel oder freie Medien. Und die Mehrheit der Menschen wird nur dann an Demokratie und Pluralität festhalten, wenn sich auch ihre persönlichen Lebensumstände bessern.

Die Hürden sind also hoch. Trotzdem: Ägypten und Tunesien können es schaffen – nicht zuletzt beflügelt durch die Menschen in Libyen und Syrien. Sie sind zu enormen Opfern bereit, um im Kampf gegen ihre Tyrannen ebenfalls die Tür zu freien Gesellschaften aufzustoßen. Mag sein, dass der eine oder andere Despot den ersten Ansturm seiner Landsleute noch einige Zeit übersteht. Die Sehnsucht nach Freiheit aber wird am Ende siegen. Und mit Ägypten und Tunesien sind die Vorbilder jetzt direkt vor der Haustüre.

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