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Geld brennt nicht? Dieses schon.

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Europa nach der Krise: Die Unterschiede machen die Vielfalt

Wenn in Deutschland über Europa gesprochen wird, benutzt die politische Klasse eine „keimfreie Legosprache“ - vorgestanzte Wortbausteine aus hohlem Plastik. Dabei gäbe es genug Stoff für ernsthafte Debatten.

Sieht man vom Schattenboxen um die Griechenlandhilfe ab, findet die europäische Krise im deutschen Wahlkampf nicht statt. Angela Merkel hat das Thema von der Tagesordnung genommen, und weder SPD noch Grüne oder FDP sind ernsthaft gewillt, es wieder darauf zu setzen. Die Medien scheinen ebenfalls desinteressiert zu sein: sei es aus vorbeugender Unterwerfung gegenüber der Politik, oder weil sie ihr Publikum für übersättigt halten. Jedenfalls sind die EU und der Euro in den vielen Interviews der Kanzlerin kaum noch eine Frage wert gewesen. Dabei geht es um die entscheidende Aufgabe der nächsten Legislaturperiode.

Wenn in Deutschland doch einmal über Europa gesprochen wird, dann benutzt die politische Klasse eine „keimfreie Legosprache“, wie der britische Publizist Timothy Garton Ash kürzlich gespottet hat: vorgestanzte Wortbausteine aus hohlem Plastik. Auch im TV-Duell zwischen der Regierungschefin und ihrem Herausforderer klapperten wieder die rhetorischen Versatzstücke, ehe es die beiden Volksparteien mit Merkels Vorwurf sozialdemokratischer Unzuverlässigkeit und der SPD-Forderung nach einer Entschuldigung der Kanzlerin etwas im Karton rappeln ließen.

Dabei gäbe es genug Stoff für ernsthafte Diskussionen. Schließlich haben sich die überkommenen historischen Begründungen der europäischen Einigung in den zurückliegenden drei Jahren ins Gegenteil verkehrt. In ihrem gegenwärtigen Zustand schleift die europäische Integration die Nationalismen im Euro-Raum nicht ab, sie spitzt sie zu. Sie sichert rechtsstaatliche Verfahren und demokratisch legitimierte Entscheidungen nicht, sondern gefährdet sie. Anstatt unsere Sicherheit zu erhöhen, produziert sie Unsicherheit. Sie einigt den Kontinent nicht, sie spaltet ihn: in Länder mit und ohne Euro, in Gläubiger- und Schuldnerstaaten.

Die EU hat durch den Euro nicht an politischem Gewicht in der Welt gewonnen. Vielmehr droht sie dauerhaft Einfluss zu verlieren. Aus deutscher Sicht hat die Währungsunion genau jene Gefahren heraufbeschworen, die man mithilfe der europäischen Einigung hinter sich lassen wollte: Isolation und jene halbe Hegemonie, in der sich das Deutsche Reich zu seinem und Europas Unglück vor 1945 immer wieder befunden hat. Die gedeihliche Zusammenarbeit mit Frankreich, in der Vergangenheit Triebkraft des Integrationsprozesses, befindet sich in einer tiefen Krise.

Als Auswege aus der Sackgasse stehen im Prinzip drei Möglichkeiten zur Wahl: erstens der verspätete Durchbruch zu den Vereinigten Staaten von Europa, zweitens die Weiterentwicklung der Transfer- und Haftungsunion durch die Zusammenarbeit der nationalen Regierungen, oder drittens eine Integration durch Dezentralisierung und Wettbewerb, innerhalb derer sich die Mitgliedsländer in verschiedenen Konstellationen und unterschiedlicher Intensität zur Kooperation bei Teilprojekten der europäischen Einigung zusammentun.

Die Schwierigkeiten, die in die Krise geführt haben, wurzeln nicht in ungenügenden Transferzahlungen und auch nicht in fehlerhaften politischen Entscheidungsmechanismen. Ihren Kern bilden vielmehr jene politischen, kulturellen, mentalen, auch sozialen und ökonomischen Unterschiede, die gerade die Vielfalt unseres Kontinents ausmachen und ohne die Europa nicht Europa wäre. Diese Unebenheiten lassen sich auch durch veränderte institutionelle Arrangements und weiter gesteigerte finanzielle Solidarität nicht in wenigen Jahren glätten. Sowohl in den Vereinigten Staaten von Europa als auch in einer weiterhin von der Zusammenarbeit nationaler Regierungen geprägten Währungsunion würde ein Gefälle zwischen unterschiedlich entwickelten, verschiedenartig wirtschaftenden und auch politisch-kulturell ungleichen Ländern bestehen bleiben und für permanente Spannung sorgen.

Dominik Geppert ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Bonn.

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Außerdem entfernen sich in beiden Fällen die wichtigen politischen Entscheidungen immer weiter vom einzelnen Bürger. Eine in Brüssel gestaltete zentrale Finanzpolitik – gleichgültig, ob sie von einem supranationalen Währungskommissar oder von einem durch die nationalen Regierungen bestellten Chef der Euro-Gruppe formuliert wird – ist notgedrungen weiter von den Sorgen und Nöten der europäischen Bürger entfernt als eine, die sich in nationaler Verantwortung befindet. Gleiches gilt für eine zentrale Sozialpolitik, die zwangsläufig die Folge größerer Integration wäre.

Ein drittes Grundproblem der beiden erstgenannten Zukunftsentwürfe besteht darin, dass sie die EU mit der Euro-Zone gleichsetzen. Die Fortentwicklung der gesamten Union wird von den gegenwärtigen Schwierigkeiten der Währungsunion her konzipiert und darauf reduziert, was deren Zusammenhalt dient. Die Präferenzen der ostmitteleuropäischen Staaten ohne Euro spielen ebenso wenig eine Rolle wie die Interessen derjenigen Länder in Nord- und Westeuropa, die sich wie Schweden, Dänemark und Großbritannien gegen einen Beitritt zur Gemeinschaftswährung entschieden haben.

Auch die spezifischen Anliegen Deutschlands kommen bei einer solchen Betrachtung zu kurz. Als Zentralmacht in der Mitte des Kontinents gehen die deutschen Bedürfnisse weniger in den Belangen der Euro-Zone auf als die Interessen süd- und westeuropäischer Länder wie Frankreich oder Spanien. Die deutschen Handelskontakte und Wirtschaftsbeziehungen beschränken sich nicht auf den westlichen und südlichen Saum des Kontinents, sondern erstrecken sich auch nach Osten und Norden. Die deutschen Exporte in Länder außerhalb der Währungsunion wachsen. Die Prozentzahl der Ausfuhren innerhalb der Euro-Zone gehen hingegen drastisch zurück: Seit 1999 sind sie von 46 auf 37 Prozent gesunken.

Auch geostrategisch hat die Bundesrepublik kein Interesse daran, dass sich der Kontinent erneut spaltet, diesmal nicht durch den Eisernen Vorhang, sondern entlang der Außengrenzen des Euro-Raums. Eine derartige Entwicklung droht aber, wenn die fortdauernden Probleme innerhalb der Währungsunion ihre Erweiterung nach Norden und Osten unmöglich beziehungsweise für potenzielle Beitrittskandidaten dauerhaft unattraktiv machen. Im besten Falle verfestigt sich innerhalb der EU der Zustand einer Zweiklassengesellschaft von Ländern mit und ohne Euro. Im schlimmsten Fall schwindet bei den EU-Staaten außerhalb der Währungsunion die Bereitschaft zu einer Mitgliedschaft zweiter Klasse derart, dass sie der Union ganz den Rücken kehren. In Großbritannien ist dieser Prozess bereits in vollem Gange.

Nicht zuletzt, um zu vermeiden, dass die EU mittel- oder langfristig auf die Euro-Zone zusammenschrumpft, ist deswegen die dritte Zukunftskonzeption den beiden anderen vorzuziehen. Sie setzt auf die flexible Kooperation aller Mitgliedsstaaten in einer EU, die gemeinsame Institutionen hat und sich gemeinsame Grundregeln des Zusammenlebens gibt, die aber vom Ziel einer immer engeren Einheit der ihr angehörenden Staaten und Institutionen ebenso Abschied nimmt wie von der Idee einer einheitlichen Regulierung und Normierung möglichst vieler Lebensbereiche.

Eine solche EU wäre weniger als ein Bundesstaat, weniger als die Vereinigten Staaten von Europa oder eine europäische Republik. Sie wäre aber mehr als eine bloße Freihandelszone. Sie setzte auf die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit aller Mitgliedsländer – nicht so sehr durch europaweite Steuerung als vielmehr durch den Wettbewerb um die besten Lösungen in den einzelnen Staaten und Regionen: Vergemeinschaftung durch „horizontale Integration, nicht als Zentralisierung europäischer Politik“, so hat es der Grünen-Vordenker Ralf Fücks einmal formuliert.

Eine derartige flexible und dezentrale Ordnung Europas hätte für Deutschland einen zusätzlichen Vorteil: Größe und Wirtschaftskraft unseres Landes wären in einem weiteren und lockereren Verbund, der auch Großbritannien, Schweden, Dänemark, Polen und die anderen ostmitteleuropäischen Staaten gleichberechtigt einschließt, leichter auszutarieren und für alle Beteiligten erträglicher zu gestalten als in einem wirtschaftlich und fiskalisch festgezurrten, engeren Euro-Raum mit süd- und westeuropäischer Schlagseite, in dem Deutschland einerseits übermächtig erscheint, sich aber andererseits in einer ständigen Minderheitenposition und Isolationsgefahr befindet. Außerdem wäre mit einer weltoffeneren, liberaleren EU inklusive Großbritanniens eine Stärkung der Verbindung zu den USA, etwa in Form einer transatlantischen Freihandelszone, einfacher zu bewerkstelligen als mit einem auf Süd- und Westeuropa reduzierten und zum Protektionismus tendierenden Rumpf, in dem die anti-amerikanischen Reflexe der französischen Außenpolitik ein größeres Gewicht hätten.

Für das deutsch-französische Verhältnis brächte ein Kurswechsel hin zu einer flexibleren und dezentraleren europäischen Ordnung anfangs möglicherweise zusätzliche Spannungen mit sich, so wie auch die von Helmut Kohl in den 1990er Jahren forcierte Osterweiterung der EU in Paris zunächst auf wenig Gegenliebe gestoßen war. Andererseits hat auch Frankreich strategisch ein Interesse daran, dass Großbritannien in der EU bleibt und Polen nicht dauerhaft an den Rand gedrängt wird. Jedenfalls war Präsident Pompidou Anfang der 1970er Jahre nicht zuletzt deswegen von de Gaulles Veto gegen einen britischen Beitritt zur EG abgerückt, weil er sich von einer Mitgliedschaft Großbritanniens einen Gegenpol zu dem durch die neue Ostpolitik weiter gewachsenen Gewicht der Bundesrepublik versprach.

Außerdem dürften es vielleicht gerade die französischen Sozialisten langfristig vorziehen, in einer weniger eng verbundenen EU größere Spielräume für eine nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik zu behalten oder wiederzugewinnen. Die Alternative besteht in der Fortsetzung beziehungsweise Intensivierung des unerbittlicheren Konkurrenz- und Kostendrucks in einer Währungs- und Fiskalunion mit Deutschland. Die wechselseitige Fixierung der Regierungen in Berlin und Paris aufeinander tut beiden Seiten – und auch der EU insgesamt – nicht gut. Der Ratschlag des Philosophen Peter Sloterdijk, Deutsche und Franzosen sollten endlich von ihrer „pathogenen gegenseitigen Faszination“ lassen und zu einer wohlwollenden Nichtbeachtung finden, hat etwas für sich.

Ob zu den unterschiedlichen Kooperationsnetzen einer dezentraleren EU dauerhaft auch eine Währungsunion gehören muss, ist eine durchaus offene Frage. Prinzipiell wäre mit dem Modell einer flexibleren Europäischen Union die Rückkehr zu einem System fester, aber anpassungsfähiger Wechselkurse durchaus vereinbar. Ein solches Regime würde es ermöglichen, mithilfe kontrollierter Auf- und Abwertungen der nationalen Währungen Druck abzubauen, wenn die Löhne und Preise sich in den verschiedenen Ländern über längere Zeit auseinanderentwickeln. Fiskaltransfers und von der EU erzwungene Eingriffe in die Haushalts-, Sozial- oder Arbeitsmarktpolitik der Einzelstaaten wären dann überflüssig.

Aber auch eine Gemeinschaftswährung bliebe eine Option. Ihre Mitglieder müssten allerdings – nach einem europäischen Lastenausgleich oder Schuldenschnitt, der Länder wie Griechenland, Spanien oder Portugal aus ihrer momentan ausweglosen Situation befreit – zu fiskalischer Selbstverantwortung zurückkehren. Sie müssten sich an die einmal vereinbarten Spielregeln halten und damit auch die Haftung für die von ihnen verantwortete Politik tragen. Anders ist die Wahrung nationaler Selbstbestimmung in der Wirtschafts- und Finanzpolitik nicht zu haben.

Eine zentrale Lehre der vergangenen Jahre lautet freilich, dass man sich auf die Einhaltung auch elementarer Regeln in der EU und in der Euro-Zone nicht verlassen darf. Weder der Maastricht-Vertrag noch der Stabilitäts- und Wachstumspakt oder der Fiskalpakt haben dafür gesorgt, dass sich die Mitglieder der Währungsunion an die getroffenen Abmachungen hielten. Die Vereinbarungen sind umgedeutet, verbogen und gebrochen worden. Die Rückkehr zur Regelhaftigkeit ist zwar oft beschworen, aber nicht verwirklicht worden. Da eine gemeinsame Währung jedoch ohne verbindliche Verhaltensregeln nicht funktionieren kann, müsste die deutsche Regierung im Notfall zu einseitigen Schritten bereit sein, um dafür zu sorgen, dass die Bestimmungen befolgt werden. Frankreich hat unter Präsident de Gaulle von Juli 1965 bis Januar 1966 aus nichtigerem Anlass eine Politik des leeren Stuhls betrieben, um über den Boykott der Ratssitzungen eigene Vorstellungen über die Gemeinschaft durchzusetzen.

Das Europa nach der Krise wird, wenn es Bestand haben soll, ein Europa der Vaterländer bleiben. Die Nationen werden in ihm als Träger von Demokratie, Recht und Sozialstaat weiter eine zentrale Rolle spielen. Sie werden durch Handel, gemeinsame Interessen und vielfältige gesellschaftliche, kulturelle und rechtliche Verbindungen eng miteinander verflochten sein. Die Mitglieder werden in der EU weiter ihre eigenen Ziele verfolgen, die teilweise miteinander harmonieren, aber nicht deckungsgleich sind. Wenn wir einseitig die europäische Solidarität beschwören und nationale Traditionen, Denkweisen und Interessen verleugnen, sind wir auf ein Europa fixiert, das es nicht gibt.

Dominik Geppert

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