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Meinung: Die vergessenen Werte des Westens

Von Roger Boyes, The Times

Kaum war die Queen sicher zum Buckingham Palast und den Corgis zurückgekehrt, wurde das Leben in Berlin gleich weniger hektisch. Zeit also, um Oleg in der Greifswalder Straße aufzusuchen. Oleg ist ein kleiner, spinnengleicher ehemaliger Oberst der Sowjetarmee, fast so klein wie die Queen. Mitten in seinem Wohnzimmer steht ein Modell der Panzerschlacht um Kursk: grüne Hügel und hunderte Plastiksoldaten. Der Traum eines Siebenjährigen, gelebt von einem todernsten RusslandLiebhaber, der am liebsten ein echter General und Held geworden wäre. Am Modell kleben gelbe Notizzettel. Auf einem steht: Was hat General Hausser falsch gemacht? Kein Wunder, dass Olegs Frau ihn verlassen hat. Ich bin nicht einmal sicher, dass er ihr Verschwinden bemerkt hat. Es ist sicher nicht einfach, mit einem obsessiven Kriegsfetischisten zu leben.

Da ich aber gerade an einem Text über Berliner arbeite, die in der Vergangenheit leben, sind für mich Männer wie Oleg fast normal. Schlimmer noch: Ich werde langsam wie sie. Beim Tee waren er und ich uns einig, dass das Leben seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr das alte ist. Von uns kalten Kriegern gibt es in Berlin immer weniger. Jörg Schönbohm vielleicht, ein paar Ex-Spione, der eine oder andere PDS-Veteran. Eine schräge Mischung. Doch in dieser Woche kam der Kalte Krieg zurück und mir ging es gleich besser. Die Mauer steht wieder in der Zimmerstraße, die Queen lobt den Kampfgeist der Berliner und der neue US-Präsident beginnt sich in einen zweiten Reagan zu verwandeln.

Alexandra Hildebrandts Mauer ist eine feine Idee. In zehn Jahren, wenn der Senat sie stehen lässt, wird sie mit Graffiti beschmiert sein. Jugendliche werden Stücke aus ihr rausmeißeln und Frau Hildebrandt kann die Brocken für drei Euro das Stück verkaufen. Gleichzeitig gräbt die neue Generation von Fluchthelfern einen Tunnel, der im Café Adler endet. Die Jungs aus Hellersdorf können ihre Staffordshire Pitbulls mitbringen: jede Mauer in Berlin braucht aggressive Hunde. Und alle Jahre wieder kann sich ein US-Präsident an die Ecke Friedrich-/Zimmerstraße stellen und rufen: Reißen Sie diese Mauer ein, Frau Hildebrandt!

Die Mauer und der Kalte Krieg waren natürlich schrecklich und es ist eigentlich nicht besonders angemessen, Witze darüber zu machen. Aber die Welt war vermutlich damals sicherer als heute. Wir entwickelten unsere Waffen und Abschreckungsstrategien und hatten Spione, um sicherzustellen, dass Ost und West sich an die Spielregeln halten. Nach der Kubakrise, so scheint es mir im Rückblick, war die Ost-West-Konfrontation so riskant und gefährlich wie ein Pina-Bausch-Ballet. Diese Gewissheiten sind verschwunden. Wie auch die moralischen Gewissheiten: deshalb wählten die Amerikaner einen Präsidenten, der wieder von Gut und Böse redet; deshalb reihen sich die Berliner auf, um einen Blick auf die Queen zu erhaschen. Nicht weil sie irgendetwas Spannendes zu sagen hätte, sondern weil sich die älteren Berliner an den 1965er Besuch erinnern, als sie den Geist der Stadt pries. Klaus Wowereit war zwölf, als sie vor dem Schöneberger Rathaus sprach und er verstand den Subtext: dass die Briten, die 20 Jahre zuvor Deutsche umgebracht hatten, nun bereit waren, für die Verteidigung der Stadt ihr Leben zu lassen. Warum sonst sollte die Queen die Frontstadt besuchen?

Der Kalte Krieg gab uns ein ethisches Vokabular, ließ uns über Freiheit nachdenken: über westliche Werte, für die es sich zu sterben lohnte. Die Nach-1989-Generation hat fast nichts, das den Kampf lohnte. Aber Kriege werden auch gekämpft, um die Schwachen zu verteidigen und Tyranneien zu stürzen. Sie können ein Instrument von Gerechtigkeit sein. Die Herausforderung für den wiedergewählten Bush besteht darin, die Welt davon zu überzeugen, dass der Krieg gegen den Terror ein solcher Krieg ist, dass es bei ihm um das Verständnis und die Verteidigung westlicher Werte geht. Vielleicht überfordert ihn das intellektuell. Aber Reagan, intellektuell ähnlich unterentwickelt wie Bush, machte aus seiner zweiten Amtszeit einen Erfolg. Deutschland belächelte Reagan. Inzwischen rechnen ihn Historiker zu den großen Präsidenten.

Mir gefällt Bush nicht besonders, er besitzt die nervende Aufgeblasenheit eines reichen Sohnes, aber nicht den Charme von Reagan. Aber es wäre ein Fehler, wenn die Deutschen ihn abschrieben, weil er so melodramatisch über richtig und falsch redet. Wir brauchen in Europa mehr von solchem Gerede. Wir sind gerade dabei festzustellen, dass Europa nicht durch die Geographie bestimmt ist (Türkei? Russland?), sondern durch gemeinsame Werte. Länder, die Folter zulassen oder die Demütigung von Kindern, können sich nicht als Teil der europäischen Kultur verstehen. Das ist das Wertesystem, das uns mit den USA verbindet, es sind westliche, nicht europäische Werte. Doch die wichtigen Fragen stellen nur die Amerikaner. Was sind unsere Werte wert, wenn wir nicht bereit sind, sie zu verteidigen? Wenn wir nicht versuchen, sie zu exportieren? Das sollte eine europäische Debatte sein und sie sollte in Berlin ihren Anfang nehmen, dem Hauptschauplatz des Kalten Krieges.

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