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Ein Preis für uns alle. Bürger Europas vor dem Gebäude des Europäischen Parlaments in Brüssel.

© dapd

Friedensnobelpreis für die EU: Ein Appell an uns alle

Viele Friedensnobelpreise haben Appell-Charakter. Der diesjährige richtet sich nach innen, an uns: Behaltet zusammen, was ihr zusammengefügt habt.

Von Caroline Fetscher

Auf diesen Nobelpreis für Frieden war man nicht gefasst. Gleich die ganze Europäische Union wird ausgezeichnet und damit jedes Individuum auf EU-Territorium, jede europäische Institution, ja, im Grunde auch das Komitee selbst. Mehr Inklusion geht kaum. Lob, Preis und Ruhm an uns hier, alle, das bedeutet zugleich: Mehr Diffusion geht kaum. Ganz gleich aber, aus welcher Perspektive man ihn anschaut, dieser Preisträger scheint gut gewählt, klug und richtig.

In drei Kernkategorien lassen sich Friedensnobelpreise aufteilen, Appell-, Signal- und Lebenswerk- Preise; alle drei Kategorien werden mit der Entscheidung für den demokratischen, rechtsstaatlichen Großraum repräsentiert, der sich zur Union ausgerufen hat und für sechs Jahrzehnte Frieden und Versöhnung steht.

Als der Nobelpreis für Frieden gestiftet wurde, fand sich Europa am Auftakt des 20. Jahrhunderts, dessen erste Hälfte von präzedenzlosen Barbareien des Totalitarismus dominiert war. Verzweifelt verlieh man wieder und wieder denen Preis, Ruhm und Ehre, die laut „Die Waffen nieder“ riefen. Einzelne Heroen, Rufer in der sozialen Wüste wurden hervorgehoben. In der Geschichte des Friedensnobelpreises spiegeln sich aber auch die Paradigmenwechsel zeithistorischer Auffassungen. War es zu Beginn spektakulär, ja sensationell, dass man nicht mehr nur Sieger und Kriegshelden zu Reiterstatuen in Stein schlug und in Bronze schmiedete, sondern um Frieden bemühten Zeitgenossen eine supranationale Ehrung zukommen ließ, die höchste der Welt, so nehmen inzwischen die an Institutionen und Großgruppen vergebenen Nobelpreise für Frieden zu. 1904 war zwar schon das Institut für Internationales Recht und 1917, 1944 wie 1963 jeweils das Internationale Komitee des Roten Kreuzes damit geehrt worden.

Von Obama bis Mutter Theresa: Die Vorgänger der EU:

In den ersten achtzig Jahren des seit 1901 vergebenen Preises erhielten jedoch nur etwas mehr als eine Handvoll Institutionen den Preis, während in den vergangenen drei Jahrzehnten insgesamt zehn staatliche und nicht staatliche Institutionen in seinen Genuss kamen. Darunter waren 1985 die Ärzte gegen den Atomkrieg, 1997 die Kampagne gegen Landminen, 1999 Ärzte ohne Grenzen, die Vereinten Nationen 2001, die Internationale Atomaufsichtsbehörde 2005, der Weltklimarat 2007 und nun, 2012, wir, die Union der Europäer. Wo die Tendenz zwar noch nicht zur Schwarmintelligenz geht, weist sie doch auf die Rolle von Gruppenleistungen und die eminente Funktion von Strukturen statt einzelner Genies und Heroen. Außerdem behaupten inzwischen ökologische und staatlich-demokratische Projekte ihren Rang als Garanten nicht allein der Friedensstiftung, sondern des Erhalts friedlicher, normativer Ordnungen.

Bildergalerie: Reaktionen auf die Preisverleihung an die EU:

Das Ehren herausragender Persönlichkeiten hingegen birgt Risiken oder bietet doch zumindest keine Garantie für angemessene Balance. Als etwa der Tropenarzt Albert Schweitzer 1953 mit dem Nobelpreis für Frieden geehrt wurde, war gleichzeitig auch George C. Marshall Preisträger, der Architekt des als Marshall-Plan bekannten European Recovery Program. Im Schatten Schweitzers versank der Preis für Marshall, dem wir die Grundlage des heutigen Europa mitverdanken, im kollektiven Gedächtnis. Und wer hätte geahnt, dass ein Literaturnobelpreisträger im Alter seine „letzten Tinte“ nutzt, um grenzwertige Zeilen zu Israel zu verfassen. Schützen kann auch allerhöchste Ehre die individuellen Ehrenträger nicht, wovon die tödlichen Attentate auf Anwar al Sadat 1981 und Jitzchak Rabin 1995 zeugen. Eine Institution oder Organisation, getragen und repräsentiert von vielen, lässt sich nicht auslöschen.

Nobelpreise für Frieden dürfen, ja müssen, auf einen maximalen Zustimmungsgrad in der demokratischen Welt ebenso setzen, wie bei denen, die sich nach einer solchen Welt sehnen. Düpieren, provozieren dürfen sie Diktaturen, Tyrannen, Oligarchien oder Kleptokratien. Auch ihnen allen gilt der Signalcharakter des diesjährigen Nobelpreises. Sein Appell-Anteil allerdings richtet sich nach innen, an uns, die Preisträger: Behaltet zusammen, was ihr zusammengefügt habt, haltet zusammen, wo Fliehkräfte drohen. Geeint, heißt das, und nur geeint, behält Europas Union die Stärke, die staunenswert andauernden Frieden produziert hat.

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