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Meinung: Einsame Atlantiker in Berlin

Weder Werte noch Interessen binden uns an die USA

Nun hat es auch Angela Merkel erwischt. Ausgerechnet die erste ostdeutsche Kanzlerin, deren Instinkt proamerikanisch ist, weil der Sieg dieser Supermacht ihr die Chance eines beispiellosen Aufstiegs gab, wird von den Nachwenderealitäten der europäisch-amerikanischen Beziehungen eingeholt. Und die machen deutlich, dass es eben keine Wertegemeinschaft mehr gibt, wie das in der CDU immer noch behauptet wird.

Der britische Historiker Tony Judt hat kürzlich darauf hingewiesen, dass Europa und Amerika nur durch den Unfall des Zweiten Weltkrieges zu einer Einheit namens Westen wurden, die von Pearl Harbor bis zum Mauerfall gehalten hat. Seit die andere Werte-Zwangsgemeinschaft verschwunden ist, sind wir wieder in der Welt angekommen, die seit 1648 tatsächlich und seit 1815 bewusst die Beziehungen zwischen den Staaten ausmachte, der Kosmos der mehr oder weniger souveränen Nationalstaaten.

Auch früher gab es Bündnisse, die zweckgerichtet und nicht wertegesichert waren. Wenn die Französische Republik mit dem Zarenreich eine Verbindung einging, die fester hielt als das autokratische Dreikaiserbündnis zwischen Habsburgern, Romanows und Hohenzollern, dann deshalb, weil man mit den Grundwerten der Staaten nachsichtig umging, schließlich ging es um gemeinsame Gefahrenabwehr und nicht darum, Franzosen in Russland heimisch zu machen. Auch jetzt ist moralischer Hochmut unangebracht. Es ist Sache Amerikas, wie es mit Terrorismusverdächtigen umgeht, wenn es das Völkerrecht beachtet. Ein Bündnis, das auf gemeinsamen Interessen ruht, wird nicht dadurch obsolet, dass man Menschenrechte ein wenig unterschiedlich interpretiert. Was zu Besorgnis Anlass gibt, ist nicht das Verschwinden der Wertegemeinschaft, die immer nur vor der roten Folie der kommunistischen Weltrevolution Bestand hatte, sondern die sich auflösende Interessenidentität.

Seit Präsident Bush seinen Krieg im Irak geführt und – wenigstens mittelfristig – verloren hat, haben die „Atlantiker“ in Berlin ein Problem: Wie lässt sich das aus ihrer Sicht unverzichtbare Bündnis mit der westlichen Supermacht aufrechterhalten, wenn die eigenen Analysen zu dem Ergebnis kommen, dass die US-Politik falsch ist?

Nicht anderes steckt hinter dem Streit um Menschenrechte für die des Terrorismus Verdächtigen. Wenn man in Berlin überzeugt wäre, dass der moralische Ritt auf der Rasierklinge zum Erfolg führt, fiele die Kritik trotz liberaler Einwände von rechts und pazifistischer von links zurückhaltender aus. Doch der Zweifel, ob die Methoden zur Bekämpfung des Terrorismus nicht allesamt von falschen Voraussetzungen ausgehen, hat die moralische Sensibilität der deutschen Regierenden geschärft. Dass der Zweck die Mittel heilige, mag jesuitisch und unmoralisch erscheinen, doch wenn sich der Erfolg einstellt, sind die Mittel schnell verziehen. Das Dilemma der Bundesregierung ist die wachsende Überzeugung, dass die ganze Richtung nicht stimmt und der Kampf gegen den Terrorismus längst zu einer Chiffre für eine verfehlte Politik gegenüber der arabischen Welt verkommen ist.

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