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Wie viel Erziehung braucht die Schule?

© dpa

Erziehung: Kinder brauchen keinen Druck

Viele Schüler haben Angst. Die Schule erleben sie als ein System von Bewertung und Bestrafung. Dieser Ansatz ist gescheitert: Wir benötigen nicht mehr Erziehung, sondern eine neue Art der Beziehung.

Bei allem, was ich in den vergangenen Jahren in Deutschland im Zusammenhang mit der Institution Schule nach vielen Gesprächen mit Kindern, Eltern und Lehrern einerseits und dem Lernen und Arbeiten andererseits an Erfahrungen gesammelt habe, bin ich davon überzeugt, dass wir das „System Schule“ als Ort der Begegnungen für alle Beteiligten neu begreifen und beim Lehren in Schulen grundsätzlich anders, nämlich vom Kind aus, denken müssen. Auch braucht Schule viel stärker als bisher Raum für Sozialisations- und Beziehungserfahrungen.

Zwar sehen wir die Schule heute nicht mehr nur als reinen Lernort, und wir sind uns weitgehend darüber einig, dass sie als erweiterter Lebensraum eine große Bedeutung für das Aufwachsen von Kindern hat. Wie dieser Ort jedoch sinnvoll für grundlegende Sozialisationserfahrungen der Kinder genutzt werden kann, ist aus meiner Sicht noch weitgehend offen. So verändern sich die Schulformen zwar vereinzelt, eine grundsätzliche Veränderung des Systems findet jedoch nicht statt. Offen ist auch, ob eine solche Veränderung gesamtgesellschaftlich überhaupt erwünscht ist. Denn immer wieder erscheint „die alte Schule“ in „neuem Gewand“, und eine Veränderung ist nur an der Oberfläche spürbar.

Warum werden aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, welche Voraussetzungen Kinder zum guten Lernen benötigen, weitgehend ignoriert? Nach diesen Erkenntnissen sollte die alte „angstbesetzte“ Schule abgelöst werden und Schule heute Kindern einen optimalen Sozialisationsraum und die Möglichkeit bieten, in einer unterstützenden Lehrer-Schüler-Beziehung angstfrei zu lernen, Erfahrungen zu sammeln und ohne Druck die eigenen Fähigkeiten weiterzuentwickeln und Potenziale bestmöglich zu entfalten. Das Ziel von Schule sollte es sein, möglichst selbstständig vielfältige Problemlösestrategien zu finden, zu erproben und erfolgreich anzuwenden. Neben dem rein fachbezogenen Wissen sind auch emotionale und soziale Fähigkeiten wie Selbstständigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Empathie und Teamfähigkeit zu grundlegenden Entwicklungszielen geworden. Darüber ist sich die Fachwelt einig.

In der Realität allerdings gehen viele Kinder mit Angst in die Schule, können dort auf keine Beziehung vertrauen, sind verunsichert, stehen unter Druck, sind entmutigt, geben auf. Sie verbinden Schule mit negativen Erfahrungen.

Auch in der Ausbildung der Lehrer findet der Beziehungsaspekt bisher kaum Berücksichtigung. So hat eine Umfrage unter jungen Lehrern ergeben, dass sich fast jeder zweite unzureichend auf seinen Beruf vorbereitet fühlt: „40 Prozent der Junglehrer, die ihre Ausbildung bemängeln, geben an, dass sie sich unzureichend auf den Umgang mit Schülern und Eltern vorbereitet fühlen.“

Wir sollten uns von den Resultaten der Pisa-Studie nicht blenden und auch nicht erschrecken lassen. Pisa bewertet nicht die Fähigkeiten unserer Kinder! Das ist ein Trugschluss! Im Gegenteil: Pisa ist eine Momentaufnahme dessen, was die Qualität in unserem Schulsystem ausmacht, und sagt etwas darüber aus, in welchem Maße Schüler ihre Stärken und Potenziale in einem bestimmten System nutzen können. Aber über die Stärken und Fähigkeiten unserer Kinder selbst, unabhängig von diesem System, sagt Pisa nichts aus. Warum also nutzen wir nicht das Wissen, das wir darüber haben, wie Kinder erfolgreich lernen – anstatt sie permanent einem System anpassen zu wollen, das natürliche menschliche Vielfalt in ein Schema presst und so Kindern in ihrer Verschiedenartigkeit nicht entspricht? Wie sollen denn die Kinder lernen wollen, wenn schon die Lehrer lehren müssen? Druck erzeugt Gegendruck und ist keine gute Basis zum Lernen.

Um es gleich zu sagen: Das liegt nicht in erster Linie an den Lehrern, die häufig auch daran verzweifeln, dass es ihnen im vorgegebenen Rahmen schwerfällt, ihrem Arbeitsauftrag gerecht zu werden. Das Problem liegt im System selbst – einem System, das gutes Lernen im oben beschriebenen Sinne für Kinder (und Lehrer) enorm erschwert, an vielen Stellen sogar verhindert:

1. Das Schulsystem schaut vor allem defizitorientiert auf unsere Schüler und nimmt sich damit selbst die Möglichkeit, ein Umfeld bereitzustellen, in dem alle Fähigkeiten und Potenziale der Kinder zur Entwicklung kommen können.

2. Es fehlt die Zeit für eine gute Lehrer-Schüler-Beziehung. Eine Beziehung, in der Kinder mit ihren Stärken und Ideen, aber auch mit ihren Fragen und Ängsten ernst genommen werden. Eine Beziehung, die von Vertrauen und Wertschätzung gekennzeichnet ist.

3. Das System Schule ist nach wie vor auf Prinzipien wie Macht und Gehorsam aufgebaut und bietet deshalb auch keinen Raum für wertschätzenden Dialog, Kommunikation und die Beachtung der Individualität des Schülers.

Trotz vereinzelter Reformansätze fehlt letztendlich in der Schule schlicht die Zeit für einen fruchtbaren Dialog mit Kindern. Deshalb wird viel zu wenig darauf geschaut, welche Vielfalt, welche Fertigkeiten und Kompetenzen Kinder zu bieten haben. Zeit und Dialog gelten in der pädagogischen und bildungspolitischen Diskussion als Reizwörter – und ich weiß, in welch angreifbare Rolle ich mich begebe, doch es hilft nichts: Diese Faktoren entscheiden, ob Schule gelingt. Damit Kinder gut lernen können, brauchen sie eine vertrauensvolle Beziehung zum jeweiligen Lehrer. Oder anders: Kinder sind in der Schule immer nur so erfolgreich, wie es ihr Lehrer ist. Nur in einem wertschätzenden Dialog ist es möglich, Kinder zu ermutigen, sich etwas zuzutrauen, sich auszuprobieren und sich neuen Herausforderungen zu stellen.

Stattdessen wird der Fokus in der Regel auf „Defizite“ und „Versagen“ gelegt, und diejenigen Schüler, die die vorgesehenen Normen und Leistungsansprüche nicht erfüllen können, werden dann an genau diesen Stellen belehrt, „repariert“ und sanktioniert: durch Bewertung, durch entsprechende Noten, durch Kritik, durch verstärktes Einüben eben der Normen und Vorgaben, denen der Schüler nicht genügte – und das betrifft Lernziele genauso wie Verhaltensregeln, zum Beispiel das Stillsitzen.

So steht das vorherrschende Schulsystem dem kindlichen Lernen, den natürlichen Bedürfnissen und Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern oft entgegen: Kinder sind von Natur aus Forscher, Entdecker, und genau durch dieses Forschen, durch das permanente Sichausprobieren und -erproben, angetrieben von ihrer natürlichen Neugier, lernen sie und entwickeln ihre Kompetenzen weiter.

Säuglinge lernen dadurch, dass sie nach ihrer Umwelt greifen, sie förmlich begreifen und vor allem, indem sie ständig eigene Erfahrungen machen – sie betasten alles, stecken alles in den Mund. Sie wollen schmecken, riechen, fühlen, alles anschauen und ausprobieren. Sie sind kleine Forscher, die immerzu kleine Experimente in Gang setzen und beobachten, was passiert, wenn sie eine bestimmte Sache tun: einen Löffel auf den Boden fallen lassen, den Ball rollen, mit Essen herummatschen, die Eltern anlächeln. Die Kopplung von Handlung und Wahrnehmung ist die natürliche und notwendige Voraussetzung dafür, dass Kinder kausales Denken und damit auch intendiertes Handeln lernen.

Wenn Kinder älter werden, wird dieses Experimentieren komplexer und gezielter. In den Schulen jedoch passiert dann etwas Merkwürdiges: Mit dem Eintritt in diese Institution werden Gestaltungslust sowie Experimentier- und Lernfreude immer wieder so enttäuscht, dass Kinder erst frustriert werden und dann diese Fähigkeiten schnell verlieren. Kinder, aber auch Eltern erzählen mir häufig, dass schon in den ersten Wochen nach der Einschulung Neugierde und Motivation abnähmen.

Warum ist das so? Ein wesentlicher Grund ist, dass es im Unterricht kaum Spielraum für ergebnisoffenes Arbeiten gibt. Vieles ist vorgegeben und in seinen Resultaten erwartbar. Das echte eigene Experimentieren hat ein Ende. So gibt es nur wenige Möglichkeiten, wirklich selbst Erfahrungen zu machen und damit auch Interesse am Prozess des Experimentierens zu entwickeln. Die Stärken und Potenziale des einzelnen Kindes werden so weder erkannt noch berücksichtigt oder gar voll ausgeschöpft.

Ich halte das für fahrlässig. In unserer modernen Gesellschaft können wir uns das schlicht nicht leisten. Die Fähigkeiten unserer Kinder sind ein kostbares Gut, das wir verschleudern, indem wir Kindern das Wissen oft schon fertig „präsentieren“. Das Kind als Entdecker und Forscher ist im Lernprozess der Schule kaum gefragt. Die angeborene Gestaltungslust und die natürliche Neugier der Kinder kommen nicht zum Tragen, werden sogar gebremst oder entwickeln sich zurück. Zudem werden Kinder ständig bewertet und kritisiert – also permanenten Kränkungen ausgesetzt, was die Frustration verstärkt und die Motivation zum Lernen nimmt, mit der sie ursprünglich in die Schule eingetreten sind. Diese Mechanismen führen bei einem Großteil der Kinder zwangsläufig dazu, dass sie sich nichts mehr zutrauen, bei manchen sogar dazu, dass sie sich aufgeben.

Und so hängt, ob ein Kind in der Schule „besteht“, vor allem davon ab, wie gut sich ein Kind im System anpassen (lässt) und innerhalb der vorgegebenen Normen vorgegebene Ziele erreichen kann. Das System kann nur mit den systemeigenen Maßstäben messen und macht sich so für alles andere blind. Kinder geraten deshalb häufig in einen grundsätzlichen Konflikt mit sich selbst, aus dem sie oft tief getroffen und in ihrem Selbst verletzt hervorgehen.

Meist können die Kinder diesen Konflikt erst einmal nicht benennen. Sie reagieren nur darauf. Gerade in den Grundschulen wird dies deutlich. Die Kinder zeigen Symptome: Manche Kinder ziehen sich in sich zurück. Manche werden zur Belastung für das System, wandeln ihre Frustrationen und Verletzungen in Aggression nach außen um. Wenn man auf die Ursachen schaut, ist das eine nur verständliche und ganz natürliche Reaktion der Kinder. Das Verhalten ist symptomatisch für die Mechanismen, die im deutschen Schulsystem vorherrschen.

Und so passiert es dann, dass auf den Gymnasien die Schüler angenommen werden, die in der Grundschule innerhalb des Systems am besten „funktioniert“ haben. Über die Fähigkeiten der restlichen Schüler sagt eine nicht erhaltene Gymnasialempfehlung jedoch nichts aus. Sie bescheinigt nur, dass sich das Kind mit seinen Fähigkeiten im System Schule nicht so gut zurechtgefunden hat wie ein anderes – vielleicht sogar mit seinem Potenzial, das im System nicht von Nutzen war, übersehen wurde.

Sie meinen, ich würde übertreiben und zu sehr schwarzmalen? Ich denke nicht. Die Zahlen sprechen für sich. „Jedes zweite Kind in Therapie“ titelt der „Focus“ und beruft sich dabei auf eine Forsa-Umfrage, die ergeben hat, dass mittlerweile jeder zweite Schüler bereits eine Therapie hinter sich hat. Das ist eine absolute Katastrophe! Die eigentlichen Bedürfnisse der Kinder werden dabei überhaupt nicht berücksichtigt. Meine Erfahrung ist, dass 90 Prozent dieser Kinder keine Therapie, sondern Hinwendung und eine stabile Beziehung brauchen.

Katharina Saalfrank

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