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Meinung: Es darf gedacht werden

Die Koalition hat in Genshagen gezeigt, dass sie mit langem Atem regieren will

Was kann eine große Koalition? Angela Merkel hat nach Genshagen ihre Formel von den vielen kleinen Schritten ergänzt: Der Erfolg hänge auch davon ab, ob Erwartungen und Ergebnisse in ein Gleichgewicht gebracht werden, hat die Regierungschefin nach der Kabinettsklausur gesagt. Ein Satz, der Skeptiker darin bestätigen wird, dass ein Bündnis der Großen stets auf den kleinsten Nenner hinausläuft. Denn für diese Balance reicht es ja, die Erwartungen zu senken.

Tatsächlich hat die Bundesregierung in Genshagen das Rad nicht neu erfunden. Sie hat sogar jeden Anschein vermieden, sie wolle mit Ergebnissen prunken. Die Arbeitsklausur hat lediglich konkretisiert, worauf Schwarz und Rot sich schon im Koalitionsvertrag verständigt haben. Beim 25-Milliarden-Paket sind sogar noch letzte Rechnungen fällig. Und die offenen Reformfragen, Gesundheit und Niedriglohnsektor, bei denen es in Genshagen ohnehin nur um Verfahren und Zeitpläne gehen sollte, haben die Koalitionäre selbst in dieser Hinsicht vorsichtig behandelt: Das Ergebnispapier trifft keinerlei Festlegung, wann zu diesen Themen etwas im Gesetzblatt stehen soll.

Gerade deshalb können sich nach Genshagen die Optimisten bestätigt sehen, die das Glas gern halb voll sehen. Hier geht offenbar eine Regierung ans Werk, die unbeirrt dem Lehrsatz folgen kann, wonach in der Ruhe die Kraft liegt. Kanzlerin und Vizekanzler haben sich bei den Konfliktthemen im Vorfeld mühelos als Hüter des Koalitionsvertrags erwiesen. Merkel hat – gegen ihre eigene Haltung – beim Ausstieg aus dem Atomausstieg ihre Leute und Müntefering die seinen gebremst, als es um die Höhe des Milliardenpakets ging. Kopfnickend begleiten die beiden gegenseitig ihre Gedankenspiele um Mindest- und Kombilöhne. Das ist bekanntlich ein Feld, auf dem die Volksparteien vor keiner demagogischen Zuspitzung zurückgeschreckt wären, um die jeweils andere der Staatsfixiertheit oder sozialen Kälte zu bezichtigen.

Jetzt wird nicht der Wahrheit, aber immerhin der Realität die Ehre gegeben – und die lautet, dass keine Parteizentrale die Konzepte für die großen Probleme in der Schublade hat. Sie müssen gesucht, erprobt und gegebenenfalls korrigiert werden. Angela Merkel hat gestern nicht so getan, als ob da nichts wäre, als sie in wenigen Sätzen die offene Energiefrage skizziert hat. Trotzdem hat sie weder den Koalitionsvertrag dementiert noch ihre Regierungspartner brüskiert. Der Sozialdemokrat Franz Müntefering hat in bisher unbekannter Gelassenheit ausgesprochen, dass die Tarifparteien den Niedriglohnsektor nicht im Griff haben.

In Genshagen ging es nicht nur friedlich zu – in einer großen Koalition darf nachgedacht und gestritten werden, ohne die Gefahr des Scheiterns bei der nächsten Abstimmung im Bundestag. Merkels Regierung kann große Wirkung entfalten, weil sie im Reformprozess entwickeln kann, was den kleinen Koalitionen immer fehlte: langen Atem.

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