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Essay: Europa: Wer sind wir – und wenn nein, warum?

Das Bild von Europa bekommt Sprünge. Auf postmoderne Kiezbewohner wirkt das Projekt bedrohlich. Zu Unrecht.

Von Caroline Fetscher

Spät nachts unterhält sich manchmal ein launiger Kauz aus Franken im Fernsehen mit mehr oder minder bekannten Gästen. Der Kabarettist mit dem schönen Namen Barwasser nennt sich Erwin Pelzig und fragt öfter das, was andere sich nicht trauen. Vor drei Tagen servierte er dem Seehofer Horst die zu seinem Setting gehörende Bowle. Es sei doch ein Skandal, kündigte Pelzig den Gast an, „dass man sich die Sozialdemokraten inzwischen bei der CSU besorgen“ müsse, eine Anspielung auf die Forderungen des Politikers nach kräftigen Steuern für die Finanzbranche. Ob es ihn nicht manchmal zur Verzweiflung bringe, wollte Pelzig von dem Politiker wissen, wie sehr die Finanzmärkte alles beherrschen, wie machtlos die Politik da sei. Mit dem entwaffnend handfesten Charme der Bayern bekannte dieser, so sei es: „Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt, und diejenigen, die gewählt sind, können nicht entscheiden.“

Gut – das war Kabarett. Doch zugleich ist es symptomatisch für eine Republik der Verunsicherung und Identitätswirren: Wissen die Parteien und Politiker noch, wer sie sind und wohin sie gehören? Besitzt bei den ökonomischen Krisen auf dem Kontinent Europa oder global noch irgendjemand, und seien es die Nobelpreisträger für Finanzwirtschaft, den Überblick? Wer regiert uns, das Geld oder die Gewählten?

Größer war die Verunsicherung lange nicht, aber draußen, auf den Straßen der Städte und Dörfer, ist alles Ruhe und Alltag. Nirgends versammeln sich Bürgermengen gegen Milliardenpakete, Rettungsschirme oder wetterwendisches Personal der Eliten. Gegen wen, für wen sollte man auch Sturm laufen? Gegen „das System“, zu dem sie doch selber gehören, von dem sie doch die Sicherheit ihrer Anlagen und Renten erhoffen?

Aus Bürgern sind Bürgen geworden, und wer genau die Schuldiger sind, weiß man nicht. Nur, dass Europa jetzt so eine Art Pendant zum internationalen Währungsfonds gegründet hat, fast über Nacht, und dass man sich an „Milliarden“ so gewöhnt hat, als herrsche bereits Inflation. Wem da misstrauen? Allenfalls brodeln, bedient von der Boulevardpresse, anti-griechische Ressentiments im Alltag auf. Wichtiger und vor allem fasslicher bleibt der republikweite Schreck über den angeknacksten Nationalknöchel eines Fußballers.

Verunsicherung ist die invasive und massive Devise der Gegenwart. Schub um Schub hat sie sich eingestellt, unsichtbar wie die Vulkanasche, überall präsent. Verunsichert sind Europas Regierungen, nervös sind Konzerne und Aktionäre, seit sich die Wirtschaftskrise auch als Krise des stabil gewähnten Euros entpuppt. Auf der Suche nach Orientierung sind auch die Parteien. In ihrem Farbenwirrwarr aus Rot, Schwarz, Gelb, Grün, Dunkelrot bewegen sie sich auf Zickzacklinien. Schockiert sind die Steuerzahler, die um Euro und Anlagen bangen, diffuse Furcht herrscht bei Familien, Schulen und Kitas, seit von Sparen und Wegkassieren die Rede ist. Wer sind wir? heißt die nicht gestellte Frage über alledem. In Abwandlung eines populär-philosophischen Buchtitels könnte sie weiter lauten: Und wenn nein – wie kommt das?

Ein sprechendes Symptom für die Brüche und Widersprüche der Gegenwart sind die enormen Stimmungsschwankungen bei der „Sonntagsfrage“. Parteien, die gerade eben noch selbstgewiss ihre Fahnen gehisst hatten, holen sie anderntags mutlos vom Mast, oder umgekehrt – so schrumpft das Legitimitätsreservoir der Akteure in Politik und Wirtschaft. Wie der Kunstdieb in Paris den Picasso – so stiehlt uns die Gegenwart einige unserer liebsten Bilder und traditionellen Gewissheiten.

Die Ursachen für die Verunsicherung reichen gleichwohl tiefer und weiter, über das derzeitige Krisenzittern hinaus. Sie liegen auch in Widersprüchen, Ansprüchen und Werten begründet, die für postmoderne Bevölkerungen selbstverständlich geworden sind. In seiner Studie „Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit, Reflexivität und Nähe“ (Hamburger Edition, 2010) beleuchtet Pierre Rosanvallon, der am Collège de France neueste politische Geschichte lehrt, den generellen Mentalitätswandel in hoch entwickelten Staaten. Sie liest sich wie ein Hintergrundbericht zur Lage. Nicht mehr die Identität einer Klasse und deren traditionelle Position bestimmt unsere Einstellung, sondern eine „Vielfalt der Minderheiten“, deren Loyalität losgelöst von klassischen Gruppierungen, Parteien die Bereitschaft fördert, „flüchtige Koalitionen“ einzugehen. Wir bilden heute Gesellschaften der Distinktion, der Partikularisten.

Auf dem Arbeitsmarkt etwa zählt beim Einzelnen dessen individuelles Bündel von Fähigkeiten und Fertigkeiten, worauf der Begriff „Alleinstellungsmerkmal“ verweist, wie ihn Coachs und Profilberater für ihre Klienten verwenden. An der politischen Börse steigen und fallen Kurse ähnlich wie auf den Finanzmärkten, feste Legierungen sind selten. Aus Anhängern der Grünen oder der FDP können über Nacht „Piraten“, Wechselwähler und Nichtwähler werden – und zu schwer kalkulierbaren Zielgruppen. Von den Regierenden erwarten diese neuen Subjekte ebenfalls mehr Beweglichkeit, Individualität. Sie wollen „Bürgernähe“, als Präsenz, Empathie, Zugewandtheit. Und sie wollen ein Maß an Partizipation, das ihnen als Kompensation für das Gefühl dient, der Staatsmaschinerie ausgeliefert zu sein. Je mehr einer mitmacht, so Rosanvallon, desto eher identifiziert er sich mit Prozess und System, selbst da, wo er nicht nur den Vorteil hat.

Das bedeutet auch: Je lokaler, je regionaler ein Prozess, desto eher lädt er zu Identifizierung ein. Das Gute daran ist: Für Großprojekte wie Kolonialimperien werden die postmodernen Individualisten nicht mehr zu mobilisieren sein. Das Bedrohliche daran ist jedoch, dass sie sich auch mit sinnvollen, friedlichen, solidarischen Großprojekten wie der Europäischen Union kaum identifizieren können. Es sei denn, es wird entsprechend vermittelt. – Das aber geschieht kaum.

Wir sind heute, was Bürgerbewegungen und alternative Akteure so lange gewünscht haben: Individuelle Kiezbewohner und soziale Kleingärtner mit einigem Bürgersinn, wir sind Antragsteller, Beschwerdeführer, Skeptiker, Kümmerer, frei assoziierte Gruppenbildner. Wir gehen zum Stadtteilfest, Elternabend, Public Viewing, Leseclub, Fußballmatch, zur Grillparty, zum Tatortgucken in der Kneipe, zum Rockkonzert für Sechzigjährige. Wir sampeln uns zusammen, wir zappen uns durchs Leben, jeder für sich.

Anzeichen für den Wandel unseres Politikbegriffs sind die Talkshows, in denen neben der Prominenz das „Betroffenensofa“ mit der Stimme aus der Bevölkerung Platz hat („Herr Meier lebt seit Jahren von Hartz IV“, „Frau Müller findet keinen Kitaplatz für ihren Sohn“). Oder die E-Mail-Postfächer von Abgeordneten, die Bürger zu persönlichen Anfragen einladen. Zur Bürgernähe gehört auch die physische Präsenz der politischen Akteure. Sie müssen sich vor Ort zeigen, bei der Oderflut, bei den Truppen in Afghanistan oder auf der Demo gegen Rechts. In Home-Storys präsentieren sie sich dem Publikum als Familienmenschen oder Hundenarren, sie haben Stärken und Schwächen. Dem hierarchischen Von-oben-herab-Regierenden, der den Weg weist, ist der bürgernahe Kenner gefolgt, der auch mal Ehebrecher oder Alkoholsünder sein darf: „Einer wie wir“.

Diametral entgegen stehen diesem Bedürfnis nach „Nähe“ und individueller Aufmerksamkeit die gigantischen, abstrakten und komplexen Probleme der Weltwirtschaft, der Regulierung der Finanzmärkte, der Staatenbündnisse und der „Opfer“ zugunsten eines Großen und Ganzen, dessen Sinn sich nicht gleich erschließt. Extrem schwer vermittelbar wirkt da auch das Konzept der Europäischen Union. Was ist Brüssel? Kennen wir da außer Herrn Barroso und unseren abgehalfterten Länderchefs, die dort die Bürokratie bereichern sollen, überhaupt irgendein Gesicht?

Zu Recht wird der mangelnde Gestaltungswille der politischen Eliten in Deutschland beklagt, deren an Tagesgeschäft, an Interessenkalkül haftende Unbeweglichkeit, wie sie sich nicht aufraffen, den Finanzraum der Europäischen Union aktiv, beherzt und mit politischen Argumenten um eine politische, soziale Dimension zu erweitern. The United States of Europe haben keinen Obama, der ihre Bürger anspricht und begeistert.

In seiner visionären Jenaer Antrittsvorlesung zur Universalgeschichte 1789 hatte Friedrich Schiller die Zivilisation eines friedlichen Europa beschworen: „Wie viele Erfindungen, Entdeckungen, Staats- und Kirchen-Revolutionen mussten zusammentreffen, diesen neuen, noch zarten Keimen von Wissenschaft und Kunst Wachstum und Ausbreitung zu geben! Wie viele Kriege mussten geführt, wie viele Bündnisse geknüpft, zerrissen und aufs neue geknüpft werden, um endlich Europa zu dem Friedensgrundsatz zu bringen, welcher allein den Staaten wie den Bürgern vergönnt, ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten und ihre Kräfte zu einem verständigen Zwecke zu versammeln!“

Wie weit – und wie gewaltvoll – der Weg von 1789 über das 20. Jahrhundert mit seinen verheerenden, Generationen traumatisierenden Totalitarismen auf dem Boden des Kontinents noch sein würde bis zur Europäischen Union, das konnten Schillers Zeitgenossen kaum ahnen. Wir Zeitgenossen nun, die Deutschen zumal, wissen noch kaum im Ansatz zu schätzen, was wir an der Europäischen Union überhaupt haben. Zwar sind wir nicht mehr ausschließlich nationalstaatlich orientiert, aber auch noch nicht wirklich Europäer. Statt Anzeichen politischer Euro-Euphorie zu entwickeln, regredieren wir derzeit zur Europhobie von Kleinsparern; ein Ausdruck des Partikularismus, von dem Rosanvallon spricht.

Beim Blick über den rissigen und riesigen Krisenrand von heute hinaus stellt sich die Frage: Was müsste „Europa“, was müssten europäische Eliten leisten, damit die chancenreichste Staatenunion der Geschichte auf diesem Kontinent ein Profil bekommt, ein Gesicht hätte, das attraktiv wäre, eines, in dem man sich spiegeln will, um zu sagen: „Ich bin ein Europäer“? Wie könnte Europa zu solcher Identifikation animieren? Wie lassen sich der faszinierenden Dimension des Projekts Europa libidinös besetzbare Aspekte verleihen, die übrigens auch und gerade für die Millionen von Migranten ein weitaus interessanteres, realistischeres Angebot zur symbolischen wie aktiven Teilhabe wären als jede nationalistische Variante auf dem Markt der Identitäten?

Was nun? Ja, die unvermeidlichen, idealistischen, pädagogischen Ideen, ja. Denn „Europa“ lässt sich weder durch Schiller noch Jean Claude Juncker so bürgernah, zeitgemäß vermitteln, wie es notwendig wäre. Soll die EU mehr Präsenz erhalten im Bildungssystem, in Zeitungen, Sendungen, durch Wettbewerbe etc., muss der politische Wille entzündet, Fantasie angeregt werden. Wenn die Kanzlerin von der EU als einer „Schicksalsgemeinschaft“ spricht, hat das fast bedrohliche Beiklänge, es erinnert nicht unbedingt daran, dass Europa, als Teilegoismen überwindendes Bündnis, für Schutz und Stärke sorgt.

In den Medien sollte ein Ressort „Europa“ Standard werden. An Schulen könnte man ein europäisches Pendant zum Projekt „Model United Nations“ ins Leben rufen, wo intensiv EU-Debatten, EU-Konflikte inszeniert werden. Europa-Runden, in Brüssel wie im Fernsehen, sollten, müssten die originellsten, besten Köpfe ans Diskutieren bringen. An sich ginge es ja darum, dass in jedem mentalen Kiez, in all den Gruppen und Subgruppen der Einzelstaaten, die Botschaft landet, dass die Europäische Union, als Ganzes genommen, nicht so viel anderes ist als wir, nämlich eine Vielfalt von Minderheiten. Nur eine ziemlich viel größere. Und eine Vielfalt, die historisch so einmalige Chancen birgt, dass sie mehr Anlass zum Feiern als zum Fürchten bietet.

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