zum Hauptinhalt
Höher, schneller, weiter - das ist das Motto bei Olympia.

© dpa

Essay: Wir Supermenschen

Das Motto der Olympischen Spiele lautet: schneller, höher, weiter. Die Athleten tun viel, um ihre Leistung zu steigern. Außerhalb des Sports sind es Fitness-Center, Kaffee, Vitamine oder Viagra, die uns nach oben bringen sollen. Sind wir alle gedopt?

Von Anna Sauerbrey

Kurz vor Beginn der Olympischen Spiele erschien das wissenschaftliche Magazin „Nature“ mit einer Titelgeschichte zum Thema Doping. Welche Leistungen, so die Leitfrage der Autoren, könnte der menschliche Körper wohl erbringen, wenn Doping legal wäre? Die Frage, ob Doping richtig ist, so heißt es in dem Text, wolle man für einen Moment einmal ausklammern. Und dann lassen die Autoren doch einen Bioethiker zu Wort kommen, Andy Miah von der University of West Scotland. Wenn es das Ziel des Anti-Doping-Kampfes sei, die Gesundheit der Sportler zu schützen, so Miah, „wäre es besser, wir würden von medizinischer Seite überwachtes Doping zulassen. Oder noch besser: Die Welt des Sports sollte der Welt-Anti-Doping-Agentur eine Welt-Pro-Doping-Agentur zur Seite stellen, deren Ziel es ist, sichere Formen der Leistungssteigerungen zu entwickeln.“

Legales Doping – warum eigentlich nicht?

Die Frage ist um so bedeutender, als dass Doping längst nicht mehr nur die Welt des Sports betrifft, sondern die Gesellschaft als Ganzes. Wir dopen. Fast alle.

Unter Doping versteht man die Einnahme unerlaubter Substanzen zum Zweck der Leistungssteigerung. Außerhalb der Welt des Sports sprechen Medizinethiker gern von „Enhancement“. Gemeint ist die gezielte Verbesserung geistiger Fähigkeiten oder des physischen Befindens bei Gesunden. Höher, schneller, weiter. Doping an Körper und Geist.

Nehmen wir einmal an, man komme dem Wunsch von Andy Miah nach und legalisiere die ganze pharmazeutische Wunderwelt in den Giftschränken der Fuentes’ dieser Welt und schaffe für so manches Mittelchen aus der Apotheke die Rezeptpflicht kurzerhand ab, befreie also Doping und Enhancement vom Ruch der Illegalität – es bliebe lediglich: die Einnahme von Substanzen zum Zweck der Leistungssteigerung.

Auch dieser Text ist unter dem Einfluss von leistungssteigernden Substanzen entstanden – alle legal, versteht sich. Allein in dem Absatz über die verschiedenen Studien zum Gehirn-Doping, den Sie weiter unten lesen können, stecken eine halbe Tafel Bitterschokolade und drei Tassen Kaffee.

Sie haben's geschafft: Deutsche Medaillengewinner bei Olympia

Harmlos, werden Sie sagen, Mumpitz. Kaffee ist doch kein Doping! Aber Kaffee ist auch nur der Anfang. Die Methoden, mit denen Körper und Geist erweitert und zu immer neuen Superleistungen angetrieben werden, werden ausgefeilter und vielfältiger. Es fängt an mit Vitamintabletten, Energydrinks, Eiweißriegeln und Nikotin. Stimmt was nicht mit der Libido, lässt sich Viagra bequem über die Internetapotheke ins Haus bestellen. Fühlt man sich ein wenig bedrückt, muss Johanniskraut her. Gegen leichtes Unwohlsein schnell ein Aspirin, beim Anflug einer Erkältung im Winter ein Kombipräparat aus Ibuprofen und Koffein. Frauen in den Wechseljahren nehmen Hormone, um die physischen und stimmungsmäßigen Folgen der Menopause zu dämpfen.

Die nächste Stufe sind Präparate, die oft der Behandlung von (psychischen) Krankheiten entnommen wurden: Eine lange Beziehung ist in die Brüche gegangen? Stimmungsaufheller wie Prozac oder Fluctin, ursprünglich entwickelt, um Depressiven zu helfen, radieren den Herzschmerz aus. Ritalin wurde zur Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms (ADHS) bei Kindern entwickelt. Weil es vom (bislang nicht erwiesenen) Mythos umweht wird, auch bei nicht ADHS-Kranken die Konzentration zu fördern, wird vermutet, dass ein Teil der rasant zunehmenden Verschreibungen missbräuchlich ist (in Deutschland stiegen sie in den vergangenen 20 Jahren um das 200-fache).

Müssten nicht bestimmte Berufsgruppen wie etwa Piloten oder Chirurgen regelrecht zum Doping verpflichtet werden?

Autorin Anna Sauerbrey.

© Tsp

Auch Modafinil, das zur Behandlung schwerer Schlafstörungen entwickelt wurde, fördert die Konzentration, nämlich nach durchwachten Nächten. Wieder andere Medikamente sollen den Appetit hemmen. Auch physische Eingriffe nehmen zu. Hier reicht die Palette vom Haarefärben über Schönheitsoperationen bis hin zu Implantaten. Elektrostimulation soll das Gehirn zum schnelleren Arbeiten bewegen. Aus vergleichsweise neuen Forschungsfeldern wie dem biologischen Ingenieurswesen, das Gensequenzen manipuliert, der Nanotechnologie und der Bioinformatik erklingen weitere Heilsversprechen zur Verbesserung des Menschen.

Ist das schlimm? Gesundheitspolitische Hysterie ist schon deshalb verfehlt, weil viele dieser Maßnahmen, jede für sich genommen, nicht besonders weit verbreitet sind. Um das Jahr 2009 gab es eine Debatte über das Hirndoping, ausgelöst durch eine Reihe von Studien. Demnach ist in den USA die Praxis besonders unter Akademikern und Studierenden verbreitet. Hierzulande sorgte in demselben Jahr die DAK für Wirbel, als sie ihren Gesundheitsreport dem Thema „Doping am Arbeitsplatz“ widmete. „Gedopt“ im engeren Sinne sind demnach zwei Prozent der Arbeitnehmer. Zu ähnlichen Zahlen kamen jüngere Studien des Hochschulinformationssystems, die in diesem Jahr veröffentlicht wurden. Unter Studierenden in Deutschland nehmen nach einer Studie im Auftrag des Gesundheitsministeriums etwa fünf Prozent Präparate zur mentalen Leistungssteigerung ein, nach der Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) sind es in der Gesamtbevölkerung 1,5 Prozent – wobei hier sogar diejenigen mitgezählt sind, die das nicht verschreibungspflichtige Johanniskraut schlucken. Zudem bestätigt sich die Wirkung vieler Mittel, die als „Neuroenhancer“ gehandelt werden, bislang nicht.

Es ist die Fülle der genannten Möglichkeiten, die das Gefühl einer dopenden Gesellschaft vermitteln, und die stetig neuen Nachrichten aus der Wissenschaft. Vieles davon ist halb Utopie, halb Realität. So existieren bereits Neuro-Implantate, die es durch die Stimulation bestimmter Hirnregionen Parkinson-Patienten ermöglichen, ihre zittrigen Hände besser zu kontrollieren. Könnte man die nicht auch für andere Zwecke bei Gesunden einsetzen? An diesem Wochenende geht in London beim 400-Meter-Lauf Oscar Pistorius an den Start, dem beide Unterschenkel fehlen. Darüber, ob ihm seine Prothesen womöglich sogar einen Vorteil gegenüber anderen Sportlern verschaffen, wurde viel debattiert – ein Großteil der Sportmediziner, die sich mit dem Fall befasst haben, glaubt, die Prothesen seien trotz allem ein Nachteil. Doch wenn Prothesen tatsächlich einmal so gut sind, dass man damit schneller rennt als mit Beinen, würden dann Läufer ihre Beine gegen Prothesen tauschen? Und müsste man sie lassen?

Wenn es mal nicht klappt: Patzer bei Olympia

Extreme Beispiele wie dieses lassen einen schaudern und die Frage nach der Zulässigkeit von Doping und Enhancement intuitiv mit einem Nein beantworten. Besonders für den Sport ist die Frage, warum Doping nicht legal ist, vergleichsweise leicht zu beantworten: Es widerspricht dem Grundsatz der Fairness. Außerdem haben viele der Substanzen schwere Nebenwirkungen. Für Leistungssteigerungen im Alltag (die weniger drastisch sind, als sich die Beine amputieren zu lassen), ist das schon schwieriger.

Die Probleme beginnen bei der Abgrenzung: Was ist normal? Welche Maßnahme gilt als Behandlung von Kranken, welche als „Enhancement“ von Gesunden? Der Gedanke etwa, dass ältere Menschen auf Cochlea-Implantate verzichten sollten, die das Gehör verbessern, nur, weil es eben „normal“ ist, im Alter schlechter zu hören, scheint absurd. Wäre es dann aber nicht ungerecht, einem Berufsmusiker, der sein Gehör verbessern will, futuristische Implantate zu verweigern? Beinahe noch schwieriger ist die Beurteilung von Normalität im Fall der Psyche. Medizinethiker zitieren noch heute häufig das in den neunziger Jahren erschienene Buch „Listening to Prozac“. Darin beschreibt der US-Psychiater Peter Kramer den Effekt des Anti-Depressivums auf seine Patienten. Er stellt fest, dass es ihnen nicht nur besser ging, sondern dass sie regelrecht andere Personen wurden. Die Patientin Tess etwa, die eine schwere Kindheit hatte, aber beruflich erfolgreich war, änderte ihr Leben völlig. Sie band sich nicht länger an verheiratete Männer und fand neue Freunde. Nachdem sie das Medikament abgesetzt hatte, begann sie, in alte Muster zurückzufallen, und bat Kramer, es ihr erneut zu verschreiben. Zur Begründung sagte sie: „Ich bin nicht ich selbst.“ Nur – welches ist eigentlich ihr Selbst? Das mit oder ohne Prozac? Und wer bestimmt das, sie selbst oder ihr Arzt?

Ein weiteres Argument, das die Ablehnung des Enhancements schwierig macht, ist das Recht eines jeden Menschen, über den eigenen Körper zu bestimmen. Schönheitsoperationen sind erlaubt ebenso wie Rauchen und Alkohol, obwohl Letztere den Körper nachweislich schädigen. Selbst Suizid ist nicht untersagt. Grundsätzlich gilt, dass jeder Mensch über seinen Körper verfügen kann.

Hinzu kommt, dass die menschliche Lust an der Selbstüberwindung ein wichtiges Moment des Fortschritts ist. Sie treibt zu Höchstleistungen in Sport und Wissenschaft, sie hat die Menschheit auf den Mount Everest und auf den Mond gebracht. Diese Lust durch eine Kultur der Leistungsfeindlichkeit zu unterdrücken, wäre sicherlich von Nachteil. Man könnte die Frage, warum „Doping“ nicht erlaubt ist, sogar auf die Spitze treiben und fragen: Müssten nicht bestimmte Berufsgruppen wie etwa Piloten oder Chirurgen regelrecht zum Doping verpflichtet werden, wenn es denn wirksame Neuro-Enhancer gäbe?

Als Gegenargument wird gern die Schreckenswelt von Aldous Huxley zitiert, jener autoritative Supermenschen-Staat, in dem die Perfektion des Einzelnen nicht mehr eine Möglichkeit, sondern ein Imperativ ist. Auch wenn diese Befürchtung vor dem Hintergrund der bislang eher bescheidenen Fortschritte der Forschung in Sachen „Enhancement“ hysterisch anmutet: In einer zu stark auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft steht die freie Entscheidung eines Menschen, sich zu „dopen“ infrage. Auch, wenn die meisten Studien zum Neuro-Enhancement belegen, dass es sich nicht um ein Massenphänomen handelt, zeigen sie doch, dass zwischen Leistungsdruck und „Gehirndoping“ ein Zusammenhang besteht.

So stellte etwa das Robert-Koch-Institut fest, dass unter denjenigen, die pro Woche überdurchschnittlich viele Stunden arbeiten, das Einnehmen leistungssteigernder Mittel deutlich stärker verbreitet ist – wie überhaupt in der Gruppe der jüngeren, berufstätigen Deutschen zwischen 18 und 44 Jahren. Statt 1,5 Prozent wie im Durchschnitt der Bevölkerung „dopen“ sich in dieser Gruppe rund drei Prozent.

Tatsächlich zeigt die Reihe der Fähigkeiten und Eigenschaften, für die es Enhancement-Methoden gibt, dass die Selbstverbesserung eben nicht wertneutral erfolgt. Es geht darum, auf dem Arbeitsmarkt wettbewerbsfähiger zu sein, schneller zu denken oder sich länger konzentrieren zu können, oder aber körperlich zu glänzen, schön zu sein, schnell zu sein – schöner und schneller als andere. Es ist bemerkenswert, dass niemand an einem Mittel forscht, das uns umgänglicher macht und rücksichtsvoller, oder an einem Mittel, das uns mehr Empathie empfinden lässt.

Am Anfang von „Brave New World“ besucht eine Gruppe Studenten das „Brut- und Normzentrum“ des Supermenschen-Staates. Sie besichtigen das Fruchtbarkeitszentrum, den Raum, in dem die soziale Bestimmungen der Embryonen festgesetzt wird, und den Garten. Dort sagt einer der Verantwortlichen, Mustapha Mond, zu den jungen Leuten: „Denken Sie über Ihr Leben nach, war irgendjemand von Ihnen jemals mit unüberwindbaren Hindernissen konfrontiert?“ Niemand meldet sich. Der Traum vom Leben ohne Hindernisse hat sich in einen Albtraum verkehrt. Und mehr noch: Ohne unüberwindbare Hindernisse ist der Mensch kaum mehr Mensch.

An dieser Stelle könnten nun abschließend ein paar abwägende Worte stehen: Dass übermäßiger Technikskeptizismus dennoch nicht nötig ist. Dass glücklicherweise niemand so bald eine grundlegende Entscheidung für oder gegen Andy Miahs „Welt-Pro-Doping-Agentur“ wird treffen müssen. Dass bei jeder einzelnen Maßnahme am besten im konkreten Anwendungsfall über Sinn, Unsinn und ethische Bedenken geurteilt werden sollte. Doch der Autorin ging die Schokolade aus.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false