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Essay zum Schulbeginn: Schonraum und Ernstfall

Populäre Schulkritiker wie Richard David Precht haben Konjunktur. Sie fordern, Wissen nicht mit Bildung zu verwechseln. Was muss eine zeitgemäße, demokratische Schule in der Informationsgesellschaft leisten?

Das hier vorgestellte Konzept einer zeitgemäßen Schule versteht sich als Antwort auf eine populäre Fundamentalkritik, wie sie vor allem Richard David Precht formuliert, der die Schule auf den Kopf stellen will – welch groteskes Bild, denn wer auf dem Kopf steht, verliert in kürzester Zeit den Überblick und dann das Bewusstsein. Ich teile mit allen populären Schulkritikern die Idee, dass Schule die Eigentätigkeit und Kreativität junger Menschen stärker fördern sollte, dass Wissen nicht mit Bildung verwechselt werden darf und dass der Turbogedanke aus unserem Schulsystem herausgenommen werden muss. Aber staatliche Schule ist kein Abenteuerspielplatz, sondern ein Ort geplanten, aktiven und reflexiven Lernens. Alle Großkritiker wie Precht oder der Neurobiologe Gerald Hüther vernachlässigen, dass die öffentlich finanzierte Schule neben der Förderung der Einzelpersönlichkeit noch einen zweiten zentralen Auftrag hat: die Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft zu sichern und den jungen Menschen ein Hineinwachsen in unsere Kultur zu ermöglichen, Individualisierung und Enkulturation sind die Fachbegriffe dazu.

Eine Schule, die beide Ziele im Blick hat, kann nicht auf Systematik und Regelhaftigkeit verzichten und sie muss aktuellen Entwicklungen Rechnung tragen. In der Informationsgesellschaft ist Wissen zwar eine unerlässliche Voraussetzung, aber nicht mehr Endziel schulischer Bemühungen, weil Zahlen und Fakten in unbegrenzter Menge verfügbar sind. Daraus ergibt sich eine Akzentverschiebung: Fakten und bekannte Anwendungen werden schon beim Erwerb so kombiniert, dass sie zur Problemlösung taugen und neue Fragen aufwerfen. Wer zu fragen gelernt hat, findet auch die richtigen Antworten. Der Kern der Veränderung besteht in der systematischen Einübung von Methoden, in der Betonung des Exemplarischen und in der konsequenten Einbeziehung psychosozialer Fähigkeiten.

Schule hat die Aufgabe, den jungen Menschen auf das Leben vorzubereiten, indem sie Inhalte, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt, von denen nach heutigem Kenntnisstand erwartet werden darf, dass sie im künftigen Leben des Schülers eine wichtige Rolle spielen und den Fortbestand der Gesellschaft sichern. Allerdings muss Schule sich auch an der Gegenwart des Schülers orientieren, sie kann nicht auf das Leben vorbereiten, indem sie das Leben aus der Schule ausblendet. Deshalb muss Schule ein Haus für Kinder und Jugendliche sein, sie muss Raum zum Leben sein. Bei diesem Anspruch müssen Sacherfahrung, Sozialerfahrung und Gefühlserfahrung prinzipiell gleichwertige Elemente sein, und im Konfliktfall darf nicht automatisch die Stoffvermittlung an erster Stelle stehen. Diese Verbindung von Theorie und Praxis, von Denken, Fühlen und Handeln kann nicht auf das Schulgebäude begrenzt sein. Insbesondere muss der Bezug zur Arbeitswelt und zu Kultureinrichtungen hergestellt werden.

Auf einer Richtzielebene bestehen die Ziele von Schule darin, Informationen einzuholen, sie anderen mitzuteilen und mit deren Ergebnissen abzugleichen, um gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Information und Kommunikation führen zur Kooperation. Dem entspricht die Erkenntnis, dass bei komplexeren Gegenständen ein einzelner überfordert ist, dass mithin das zu lösende Problem des Zusammenwirkens und des Austausches mit anderen Informationsträgern bedarf und dass erst die gemeinsame Anstrengung und Bündelung aller Faktoren und Kräfte zum Ziel führt.

Die Säulen der Schule

In den verschiedenen Facetten schulischen Lernens muss der Schüler die Chance bekommen, seine Selbstwirksamkeit zu erfahren. Dazu muss er Verantwortung für sich und andere übernehmen und die Konsumentenrolle aufgeben mit ihrem mehr oder weniger passiven Abwarten, ob der Lehrer seine Motivationslage getroffen hat oder nicht. Dies lässt sich nur umsetzen, wenn der Lehrer nicht wie bisher im Zentrum des Geschehens steht und fragend-entwickelnd jeden Lernschritt vorstrukturiert, initiiert und kontrolliert. Für ein solches Konzept bedarf es der Übereinstimmung in folgenden Grundpositionen:

1. Verbindlichkeit

Verbindlichkeit setzt klare Regeln voraus, die im Idealfall durch Übereinkunft und Mitbestimmung aller Beteiligten zustande kommen. Die Schülerinnen und Schüler wissen, welches Verhalten von ihnen erwartet wird und sie kennen die Konsequenzen bei Nichterfüllung. Auf der Basis der getroffenen Verabredungen besteht ihre Aufgabe im Erbringen bestimmter Leistungen innerhalb einer festgelegten Zeit, was sie zu Subjekten ihres Handelns macht, ihr Verantwortungsbewusstsein fördert, ihr Selbstwertgefühl stärkt und letztlich ihre Selbständigkeit entwickelt. Verbindlichkeit ist das Gegenteil von Druck, denn Verbindlichkeit setzt Transparenz der Regeln und die Möglichkeit der eigenen Entscheidung voraus, während Druck durch Fremdbestimmung und eine nie aufgelöste Angst vor dem eigenen Versagen oder vor anderen Personen entsteht. Die Lehrer sind weiterhin Fachkräfte für Unterricht und Erziehung und sich ihrer Vorbildwirkung bewusst. Sie können nur glaubwürdig von Schülern Verbindlichkeit fordern, wenn sie ihren Anteil am Unterrichts- und Erziehungsprozess einbringen.

2. Genauigkeit im Denken

Der Genauigkeit im Denken und der Logik muss ein weit größerer Stellenwert zugemessen werden als bisher. Schritte dazu sind die Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung, die Einübung von schlussfolgernder Argumentation, von logischer Induktion wie logischer Deduktion, die Annäherung an ein Ziel mit Hilfe dialektischer Verfahren, die Regelfindung vom Einzelfall aus wie die Ableitung des Besonderen aus dem Allgemeinen. Die bisherige Praxis weckt bei Schülern wie bei Lehrkräften die Überzeugung, dass jede Schüleräußerung besser sei als keine und dass für eine genaue Bestimmung des Gegenstands wegen der Stofffülle und des Prüfungsdrucks oft keine Zeit bleibe. Lehrer wie Schüler geben sich deshalb häufig mit einer mittleren Ebene an Durchdringung und Aneignung des Gegenstandes zufrieden, sie bilden eine Koalition des Mittelmaßes (die funktioniert, solange die Noten stimmen).

3. Optimieren von Erstansätzen

Optimieren von Erstansätzen hängt eng mit Genauigkeit im Denken zusammen, bezieht zusätzlich die Handlungsebene ein und zielt auf eine möglichst optimale Ausschöpfung des vorhandenen Potenzials. Jedem, der beruflich Texte verfasst, ist die Methode der Überarbeitung eines ersten Entwurfs zur Erstellung der Endfassung vertraut. In unseren Schulen stellt ein derartiges Verfahren die Ausnahme dar. Das hängt zusammen mit fehlender Zeit, mit der mangelnden technischen Ausstattung und mit der oft bei den Schülern nicht vorhandenen Bereitschaft, sich erneut mit einem schon bekannten Gegenstand auseinanderzusetzen. Viele unserer Schülerinnen und Schüler sind auf diesem Gebiet nicht über ihre Kindergartenzeit hinausgekommen, als ihre mit wenigen Strichen angefertigten Zeichnungen von den Erwachsenen gelobt wurden, was aus Gründen der Ich-Stärkung auch richtig war. Dieses Steckenbleiben im ersten Ansatz stellt im Erwachsenenalter jedoch keine angemessene Strategie mehr dar, weil das erste Ergebnis nicht ausreicht und der geniale Wurf dem Künstler vorbehalten bleibt. Das mehrfache Bearbeiten erfordert Ausdauer, Frustrationstoleranz und Methodenkompetenz.

4. Ganzheitlichkeit

Herkömmliche Schule fördert aufgrund der Aufteilung des Stoffs auf einzelne Fächer ein isoliertes Denken, das so lange sein Gutes hat, wie es dem Aufbau einer fachspezifischen Systematik und der Bildung eines Grundstocks an Kenntnissen dient, es ist aber dysfunktional, wenn es um aktuelles Weltverständnis geht. Es gleicht dem Versuch, die Klimaveränderungen mit dem Ansteigen des Thermometers zu erklären. Bisher wird zu oft erst die Fachsystematik gelehrt, um ein Phänomen zu erklären. Wenn man andersherum vorginge, wenn man, vom Phänomen ausgehend, verschiedene Erklärungsversuche anstrebte und die aktive Beteiligung förderte, bliebe die Systematik erhalten und gleichzeitig würde die Begrenztheit und Eindimensionalität des Faches überwunden. Hier liegt auch der Ausweg beim Streit um den Fachunterricht im Gegensatz zu den Vorzügen eines multiperspektivischen, fächerübergreifenden Vorgehens.

Ein anderer Aspekt betrifft die Kontroverse um Spezialisierung und Allgemeinbildung. Eine neue Schule muss deutlich Stellung beziehen zugunsten des „gebildeten Laien“ (Wolfgang Klafki). Die Konsequenz daraus besteht für die gymnasiale Oberstufe in der verbindlichen Belegung von Deutsch, Mathematik, Geschichte oder Sozialwissenschaften, Naturwissenschaften und musischen Fächern, wobei Akzentuierungen innerhalb dieser Fächergruppen möglich sein müssen.

5. Fremdsprachen

Wer sich verstehen will, muss sich verständigen können, hier ist der Zeitgeist einmal auf Seiten der Schule. Das Zusammenwachsen Europas, die Globalisierung der Wirtschaft und die modernen Kommunikationsmittel machen die Beherrschung von Fremdsprachen zur unerlässlichen Voraussetzung einer aktiven Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Deshalb wird das Erlernen der englischen Sprache zum konstituierenden Qualifikationsmerkmal eines Mittleren Schulabschlusses und die Beherrschung einer weiteren Fremdsprache zum nicht abwählbaren Bestandteil des Abiturs.

Organisationsformen

Der Unterricht im 45-Minuten-Takt darf nicht mehr die vorherrschende Organisationsform sein, weil er einem prozesshaft gestalteten Lernen zu geringe Entfaltungsmöglichkeiten lässt. Auch die durchgehende Gruppenbildung nach dem Prinzip der Altersgleichheit kann eher hinderlich sein. Die Aufteilung des Stoffes in einzelne Unterrichtsfächer ist oft nur historisch erklärbar und deshalb für ganzheitliches Lernen nur bedingt geeignet.

Aus diesen Grundüberlegungen heraus wird der Unterricht nach drei Grundprinzipien neu organisiert: Im Lehrgang wird ein festgelegter Unterrichtsstoff gelernt. Ziel ist der Erwerb von Grundwissen und der Aufbau einer systematischen, am Fach orientierten Lernstruktur. Dieser Unterricht erfolgt in leistungsdifferenzierten Kursen innerhalb des Jahrgangs. Ein weiterer Teil findet als Projektunterricht in der festen Bezugsgruppe (Klasse) statt. Ziel und Methoden richten sich nach den Teilnehmern, deren individuelle Fähigkeiten nicht als Belastung angesehen, sondern zur Addition der Kräfte genutzt werden.

Das dritte Angebot besteht in einem Wahlpflichtunterricht, der jahrgangsübergreifend organisiert wird. Hier sollen Interessen geweckt und Begabungen gefördert werden. Alle Fächer und Bereiche werden einbezogen, dem verbundenen Lernen wird durch „Lernbereiche“ ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Die drei Unterrichtsarten sind prinzipiell gleichwertig, Inklusionsangebote sind in allen Formen möglich. Der Anteil des Projektunterrichts darf nicht unter 25 Prozent der Jahresstundenzahl liegen. In einer so organisierten Schule wird die Strukturfrage (ISS oder Gymnasium) nachrangig, weil sie schwache Schüler unterstützen und begabte herausfordern kann.

Ein junger Mensch braucht Raum zum Wachsen, zur Erprobung und Entfaltung seiner Talente, dies aber unter Anleitung und Führung erfahrener Erwachsener. Er muss Fehler machen dürfen und kann Ermutigung und Anerkennung erwarten. Er muss ebenso Grenzen erfahren und Unlustgefühle überwinden lernen, was nicht immer nur auf der Basis eigener Einsicht gehen wird. Kinder, die sich selbst überlassen sind, enden allzu oft vor dem Bildschirm, im schnellen Konsum oder in der Unfähigkeit, Leere und Langeweile zu überwinden. Die richtige Antwort darauf besteht aber in Angeboten, nicht in Verboten.

Das Leitbild einer demokratischen Schule entscheidet sich jedoch nicht an der lehrerfreien Chill-Ecke, sondern an der Mitgestaltung des gesamten schulischen Lebens, insbesondere an der Frage, was und wie die Schüler lernen wollen und abschlussbezogen auch lernen sollen. Schule ist deshalb immer Schonraum und Ernstfall zugleich.

Wolfgang Harnischfeger

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