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Das wahre 9/11-Jubiläum hat nach Meinung von Jens Jessen bereits stattgefunden, die Anschläge in Norwegen haben die Welt erschüttert.

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Extremismus: Unsere Kreuzritter

Zehn Jahre nach dem Anschlag auf das World Trade Center und zwei Wochen nach dem Massaker in Oslo ist klar: Der Feind lauert im Herzen des Westens.

In einigen Wochen wird sich zum zehnten Mal der Tag des Attentats vom 11. September jähren, an dem fanatische Islamisten das World Trade Center in New York in Schutt und Asche legten und Hunderte Menschenleben darunter begruben. Politische Reden, Leitartikel und historische Rückblicke sonder Zahl werden die Medien mit Betrachtungen darüber füllen, wie sich die Welt seither schrecklich verändert hat und die Hoffnungen auf ein friedliches Miteinander der Kulturen und Weltreligionen zerstört wurden.

Das wahre Jubiläum hat indes schon vorletzte Woche stattgefunden. Es war der Tag des norwegischen Attentats, an dem ein fanatischer Islamfeind ein Regierungsgebäude in Oslo sprengte und Dutzende Jugendliche auf einer friedlichen Ferieninsel abknallte. Was ein Mohammed Atta, inspiriert von einem wahnhaft entstellten Islam, aus Hass auf den Westen vollzog, konnte auch ein Anders Behring Breivik, inspiriert von einem wahnhaft entstellten Christentum, aus Hass auf den Islam vollziehen – in kleinerem Maßstab, aber mit der gleichen mörderischen Konsequenz. Die spiegelsymmetrische Entsprechung der Terrorakte verschlägt einem fast den Atem. In beiden Fällen wurde wahllos gemordet, nur zum Zeichen, zur symbolischen Eröffnung eines Feldzugs, der für die Säuberung der Welt vom Bösen erst noch geführt werden muss.

In einem Punkt allerdings, der sich vielleicht schon bald als der entscheidende herausstellen könnte, endet die Spiegelsymmetrie. Der Norweger Breivik, auch wenn sein Kampf gegen die muslimische Unterwanderung des Westens gehen soll, hat nicht auf Muslime gezielt. Er hat auf Landsleute gezielt, jugendliche Gäste eines sozialdemokratischen Ferienlagers. Das war kein Irrtum, es sollte auch nicht die Wahllosigkeit steigern, die den Kern des terroristischen Schreckens ausmacht. Es war genau so gemeint, wie er geschossen hat – es ging gegen den sozialdemokratischen Geist des Verstehens und Förderns, von Flüchtlingshilfe und Integration, den er für die Schwäche, die Unterwanderung und den Niedergang seines Landes, des Westens überhaupt verantwortlich macht. In diesem Ferienlager, das war die irrwitzige Logik seines Attentats, erholten sich keine unschuldigen Jugendlichen. Dort wurden die Bürger und Politiker von morgen erzogen, die in ihrer Verblendung immer weiter Fremde, Einwanderer, Asylanten ins Land holen und fördern würden.

Man muss nicht Breiviks fünfzehnhundertseitiges Manifest lesen, um die ungeheuerliche Tragweite dieser Feindsetzung zu begreifen. Der wahre Feind für Islamgegner wie Breivik sind nicht die Islamisten, es sind die Islamversteher. Der wahre Grund für den Untergang des Abendlandes ist nicht der äußere, sondern der innere Feind: Der Westen wird an seiner eigenen faulen Großzügigkeit, an seiner verblendeten Fremdenliebe, an seiner bequemen Duldung, der fatalen Allesversteherei zugrunde gehen. Nichts zeigt deutlicher als diese Denkfigur, wie unmittelbar Breiviks Attentat an das Attentat vom 11. September anschließt. Schon damals wurden von den Anhängern der Bush-Regierung alle Versuche, die Motive der Islamisten zu begreifen, als Defätismus ausgelegt. Das bloße Verstehenwollen galt schon als Entschuldigen, als Wehrkraftzersetzung, wenn nicht gar als Kapitulation vor dem islamischen Feind. Erst recht das deutsche Nein zum Irakkrieg wurde als vorauseilende Unterwerfung interpretiert.

Seit der Debatte um den Irakkrieg – auch nachdem der Schwindel um die vermeintlichen Massenvernichtungswaffen aufgeflogen war – durchzieht ein tiefer Graben die westlichen Gesellschaften. Auf der einen Seite werden Liberalität und aufgeklärte Vernunft, Pluralismus und Durchmischung als Stärke, auf der anderen Seite als Schwäche interpretiert. Die einen sehen den Westen durch seine Freiheiten und das leuchtende Sehnsuchtsbild siegen, das diese Freiheiten in die Herzen der Muslime senkt, die anderen sagen, dass eben von diesen Freiheiten endlich Abstriche gemacht werden müssen, um den Westen wieder kampffähig zu machen. Was den einen als Triumph, als gegen den Feind behauptete Identität des Westens gilt, ist den anderen feige Selbstaufgabe.

Zehn Jahre nach dem 11. September hat der Frontverlauf Züge eines kalten Bürgerkriegs angenommen. Auch hierzulande hat die Auseinandersetzung längst ihren außenpolitischen und militärischen Anlass verloren und sich der Identifizierung des inneren Feindes zugewandt. Der Kampf wird um jedes Kopftuch, jeden Schulhof, jede Wohnzimmermoschee und jedes womöglich mehrheitlich muslimische Stadtviertel geführt. Wenn die Islamgegner dort nicht schon den Keim des Terrors schlummern sehen, dann doch den Verfall der christlich-abendländischen Identität und den mählichen Niedergang der deutschen Gesellschaft in Barbarei und Unbildung. Das berühmte Buch von Thilo Sarrazin ist ganz im Geiste dieser Befürchtung geschrieben.

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Die schrecklichste Konsequenz des Attentats auf das World Trade Center ist dieser Streit, der sich noch an dem gemütlichsten Gemüsehändler entzündet – ob er eine Bereicherung unserer Kultur darstellt, wie das liberale Milieu meint, oder doch vielleicht eher eine Bedrohung. Aber noch schrecklicher ist, dass es um diesen Gemüsehändler gar nicht geht. Es geht um die Haltung, die ihm gegenüber einzunehmen ist. Es sind die Deutschen, die sich belauern, ob sie durch übertriebenes Vertrauen in Ausländer die Selbstschutzinstinkte des Westens untergraben oder umgekehrt durch übertriebenes Misstrauen die Freiheits- und Toleranzideale des Westens verraten. Umstritten ist zwischen den Parteien schon, ob es überhaupt statthaft sei, zwischen dem Islam im Allgemeinen und den gewaltbereiten Islamisten zu unterscheiden.

In Breiviks Perspektive wäre es leicht zu sagen: Er hat, schon sein Temperitterwappen zeigt es, nichts anderes getan, als die Kreuzzugsmetaphorik George W. Bushs auszubuchstabieren. Wo es aber gilt, für einen Kreuzzug zu rekrutieren, muss jede Verweigerung, schon Skepsis verdächtig sein. Sein Attentat, indem es sich gegen Landsleute richtete, hat überdeutlich gezeigt, dass der Kampf, den er führen will, notfalls auch ohne muslimische Gegner auskäme. Der wahre Streit – auch hierzulande, auch um das Buch von Sarrazin – geht um die offene Gesellschaft. Die Feinde der offenen Gesellschaft hätten, auch wenn der letzte Ausländer fremden Glaubens vertrieben wäre, noch immer das verhasste liberale Milieu als stetes Sicherheitsrisiko vor Augen. Könnte es nicht jederzeit die Tore der Festung wieder öffnen, um heimlich Fremde einzulassen?

Und in der Tat: Die Freunde der offenen Gesellschaft wird es grausen, mit ihren Feinden allein zu bleiben. Seit dem Attentat von Oslo wissen sie genau, dass sie nach den Muslimen als Nächste auf der schwarzen Liste stünden. Das ist aber auch ein Effekt, den die zivilen und intellektuellen Islamkritiker mit ihren Reden unabsichtlich auslösen: Nicht nur der türkische oder arabische Muslim fühlt sich gemeint. Die Forderung nach einer homogenen Gesellschaft bedroht jedes Individuum, das sich, und sei es zu Unrecht, nicht dem Justemilieu zugehörig fühlt.

Hierin war Anders Behring Breivik ganz an der Seite al-Qaidas: Beide haben gegen die offene Gesellschaft gebombt. Die vermeintliche Dekadenz der westlichen Gesellschaft, ihr Durcheinander und Laisser-faire, die den Islamisten empören, ist genau jene, die Breivik zur Waffe greifen ließ – nur dass freilich die jeweilige Säuberungsabsicht einander entgegengesetzt ist. Allerdings war al-Qaida ungleich erfolgreicher: Die Anschläge von New York haben die Anhänger der offenen Gesellschaft tatsächlich unter Druck gesetzt. Den Druck üben aber nicht die Islamisten aus, sondern ihre heimlichen Gesinnungsgenossen im Herzen des Westens.

Dieser Text stammt vom Tagesspiegel-Kooperationspartner zeit.de

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