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G-20-Gipfel: Europa im Stresstest

Der G-20-Gipfel in Toronto wird wohl nicht viel bringen. Wichtiger ist ohnehin, dass die EU zusammensteht.

Der Slogan hat Wucht. „Wir zahlen nicht für eure Krise“, stand am vergangenen Sonntag bei einer Demonstration in Berlin auf den Transparenten, und es hätte keinen Sprengkörper gebraucht, um zu zeigen, dass hier ein Keil in die Gesellschaft getrieben werden soll. Wem gehört die Krise? Uns nicht, behaupten die Demonstranten. Dabei profitierten und profitieren doch auch sie von dem nach wie vor erstaunlichen Wohlstand Deutschlands, mindestens mittelbar. Und damit ist es auch ihre Krise. Arbeitsplätze, Studienplätze, Sozialleistungen – alles will finanziert sein. Es mag altmodisch klingen: Aber jeden Euro kann man nur einmal ausgeben.

Doch sind die Demonstranten mit ihrer verqueren Sicht nicht allein. Sogar manche führende Köpfe des von ihnen verhassten Systems scheinen ähnlich zu empfinden. Der Gedanke, dass es lieber die Krise der anderen sein soll, wird auch das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der 20 wichtigsten Industriestaaten und Schwellenländer kommende Woche in Toronto prägen. „Wir zahlen nicht für eure Krise“ – das sagt zum Beispiel sinngemäß auch der Gastgeber, der kanadische Premierminister Stephen Harper. „Kanada wird nicht den Weg einer exzessiven, beliebigen oder bestrafenden Regulierung seines Finanzsektors wählen“, gab er Anfang des Jahres auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos als Losung aus. Denn die Banken seines Landes seien solide aufgestellt; Kanada kenne keine Finanzkrise.

Auch die USA haben das Thema Regulierung eigentlich schon nahezu abgehakt. Ende kommender Woche, direkt vor dem Gipfel, sollen Senat und Repräsentantenhaus sich bei den letzten strittigen Punkten geeinigt haben. Präsident Barack Obama will dagegen in Toronto eher ein anderes Thema ins Zentrum stellen. In einem Brief an seine Amtskollegen wirbt er vorab dafür, die weltweiten Konjunkturhilfen nicht zu schnell durch Sparanstrengungen zunichtezumachen. Auch zeigt er sich besorgt über die schwache private Nachfrage und die Exportstärke mancher Länder – gemeint sind China, Deutschland und Japan.

Harmonie klingt anders. Von dem Zauber des ersten G-20-Gipfels im November 2008 in Washington ist nicht mehr viel übrig. Damals, kurz nach der Lehman- Pleite, war sich die Welt einig, dass etwas passieren musste. Das G-20-Format, das bis dahin nur den Finanzministern vorbehalten war, wurde erstmals auch auf oberster Ebene angewandt, um die Schwellenländer – China, Indien, Brasilien und andere – in die Lösung globaler Probleme einzubeziehen. Von einer Weltregierung war die Rede, und voreilig wurden Ankündigungen mit Vollzug gleichgesetzt. „Die Welt legt Finanzmärkte an die kurze Leine“, lautete die Überschrift auch in dieser Zeitung.

Es folgten entsprechende Gipfel in London und Pittsburgh, jetzt steht Toronto an, und im November kommt mit Incheon in Südkorea erstmals Asien dran. Aber bis heute haben es die G-20-Staaten nicht vermocht, gemeinsam eine schärfere Regulierung der Finanzwelt durchzusetzen. Die Ratingagenturen sind frei geblieben, heute machen deren Urteile Griechenland und Spanien schwer zu schaffen. Ob zu wenig gespart wird oder zu viel – am Ende steht derzeit immer ein gesenktes Rating, scheint es. Derivate werden nahezu so stark gehandelt wie eh und je, es gibt unzählige neue Produkte und unfassbar komplizierte Transaktionen. Hedgefonds setzen mit riskanten Hebelwirkungen unbekümmert Milliarden und Abermilliarden ein. Investmentbanken verdienen wieder prächtig. So erzielte die Deutsche Bank ihren Gewinn von fünf Milliarden Euro im vergangenen Jahr fast ausschließlich in der Investmentsparte – und empfindet sich dabei auch noch als vergleichsweise konservativ. Das Kasino war nie geschlossen.

Der Lehman-Schock ging tief und einte die Welt, aber der historische Moment ist passé. Für die meisten der 20 Staaten ist die Finanzkrise ausgestanden. In Europa ist das nicht der Fall. Das Finanzsystem des Kontinents stand Anfang Mai offenbar kurz vor dem Kollaps, wie die Europäische Zentralbank gerade festgestellt hat. Das trieb die Währungshüter in einer umstrittenen Abkehr von ihren Prinzipien dazu, Staatsanleihen für bisher fast 50 Milliarden Euro anzukaufen. Die Europäische Union mobilisierte gemeinsam mit dem Internationalen Währungsfonds Bürgschaften von 750 Milliarden Euro für den Notfall.

Angesichts dieser Dimensionen mutet die seismographische Betrachtung des Euro-Kurses grotesk an. Eine vorübergehende Bewegung von einem Cent nach unten wird im Börsenjargon schnell zum Kurssturz, dabei kann man doch das aktuelle Wechselkursniveau angesichts der enormen Risiken nur preisen. Offensichtlich glaubt der Finanzmarkt den Europäern insgesamt, dass sie zusammenstehen, und den Griechen sogar, dass sie ihren Staatshaushalt in Ordnung kriegen. Das sah vor wenigen Wochen noch ganz anders aus. Nicht so sehr die Haushaltsdaten von Griechenland und anderen Euro- Staaten hatten in die Währungsturbulenzen geführt, sondern die wiederholten Signale fehlender Geschlossenheit.

Die unmittelbare, akute Bedrohung des Euro scheint abgewendet zu sein. Aber die Bankenwelt in Deutschland ist alles andere als in Ordnung. Unmittelbar mit der Finanzkrise hat das allerdings wenig zu tun. Das zweite große Institut des Landes, die Commerzbank, holte den Staat an Bord, um die Übernahme der Dresdner Bank verdauen zu können, und die meisten Landesbanken hatten lange vor Lehman grundlegende Probleme. Von den großen Häusern kann einzig und allein die inzwischen verstaatlichte Hypo Real Estate ihren Niedergang mit der Finanzkrise erklären.

Der Stresstest für die Banken, der auf dem EU-Gipfel vereinbart wurde und der bis Ende Juli veröffentlicht werden soll, wird vermutlich keine wirklichen Überraschungen zutage fördern, jedenfalls nicht in Deutschland. Die Problemfälle sind bekannt. Aber er könnte den Handlungsbedarf deutlicher machen. Was wäre denn, wenn eine große Landesbank dem Stress nicht standhielte? Welche Szenarien stünden dann bereit?

Neben dem Stresstest war vor wenigen Wochen nicht absehbar, dass die EU gemeinsam eine Bankenabgabe forcieren würde. Dabei geht es hier – neben den vielen Detailfragen der besseren Aufsicht – um eines der Kernprobleme. Die Kosten einer Bankinsolvenz sollen nicht mehr automatisch beim Steuerzahler landen. „Too big to fail“, darf nicht mehr entscheidend sein. Das setzt aber voraus, dass die Branche gezwungen wird, erhebliche Mittel vorsorglich bereitzustellen. Zwei Milliarden Euro pro Jahr ab 2012 will die Koalition den Banken für einen Restrukturierungsfonds abzwacken. Das aber bedeutet, dass einige Jahre lang überhaupt nichts passieren darf. Ob das reicht?

Beim G-20-Gipfel in Toronto werden Bundeskanzlerin Angela Merkel und die anderen Europäer mit solchen Fragen eine Außenseiterrolle einnehmen. Denn anderswo wird der Handlungsdruck für den Finanzmarkt heute als viel geringer empfunden als im Herbst 2008. Stresstests haben die USA längst hinter sich. Die Finanztransaktionssteuer, die Schwarz-Gelb geprüft wissen will, hat international keine Chance. Auch aus einer scharfen globalen Regulierung der Finanzwelt wird nichts werden. Und in der Sache ist das vielleicht auch gar nicht so entscheidend. Singapur, das nicht zu den G 20 gehört, wird immer anders funktionieren als Frankfurt am Main. Die Emirate, ebenfalls kein Mitglied des Klubs, kann man kaum mit Benelux gleichsetzen.

Die Erwartung, dass sich globale Lösungen für globale Probleme finden lassen, war offensichtlich überzogen. Toronto droht in dieser Hinsicht ein ähnlicher Tiefschlag zu werden wie der Weltklimagipfel von Kopenhagen, ein Signal der Schwäche nämlich von einem obendrein nicht klar legitimierten, sondern selbst ernannten Kreis von Weltenlenkern. Freilich werden die Staats- und Regierungschefs in einer Woche trotzdem strahlend ein gemeinsames Abschlussdokument präsentieren. Aber es wird die Widersprüche nicht auflösen. Von nachhaltigen Staatsfinanzen und wachstumsfreundlicher Konsolidierung wird darin ebenso zu lesen sein wie vom Bestreben nach ausgeglichenen Handelsbilanzen und angemessenen Wechselkursen. Jeder Finanzakteur, jedes Finanzprodukt, jeder Finanzplatz müsse einer Aufsicht unterliegen, wird es wieder einmal heißen.

Glücklicherweise wird all das Platz lassen für den europäischen Weg nachhaltiger Staatsfinanzen und einer global wettbewerbsfähigen Wirtschaft. Denn auf den haben Merkel und Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy die EU gerade eingeschworen, gemeinsam. Für die Einigung war es höchste Zeit. Es wäre geradezu fatal, jetzt den Exportmotor der EU abzustellen. Der Verkauf von deutschen Maschinen in Fernost sorgt für wirtschaftliche Stabilität der gesamten Gemeinschaft. Wäre die französische Wirtschaft nicht glücklich, wenn sie ähnlich stark im Export wäre? Und würde Wirtschaftsministerin Christine Lagarde dann nicht ganz anders reden?

Denn wenn die deutsche Exportstärke in der EU ein Problem wäre, müssten wir doch sofort den Blick auf innerdeutsche Handelsströme richten und längst den verheerenden Handelsüberschuss Bayerns abstellen. Das hätte die gleiche Logik. Man würde dann in Berlin schleunigst darauf verzichten, BMW und Audi zu fahren und auf vor Ort hergestellte Fahrzeuge – Fahrräder? – zurückgreifen. Das absurde Beispiel zeigt: Die Aufrechnerei führt zu nichts, einzig und allein der Wettbewerb bei Waren und Dienstleistungen schafft Zukunft. Und die gesamte EU – der größte Wirtschaftsraum der Welt – führt ohnehin weit mehr Waren ein, als sie ausführt. Da ist noch viel Luft.

Die Konjunktur mit immer höheren Staatsschulden anzukurbeln, ist nicht nur keine nachhaltige Lösung, sondern schafft Abhängigkeiten. Das US-Geldhaus Goldman Sachs hat eine tragende Rolle dabei gespielt, die Überschuldung Griechenlands zu verschleiern. Noch viel dramatischer ist die Abhängigkeit, in die sich die USA begeben haben – China ist mit US-Staatsanleihen von zuletzt rund 900 Milliarden Dollar der größte Gläubiger der Führungsmacht. Es stimmt zwar, dass auch Peking ein Interesse an der Stabilität der amerikanischen Wirtschaft haben muss, denn nur dann lassen sich all die chinesischen Produkte absetzen. Aber auf Dauer muss diese Gleichung nicht aufgehen.

Die globale Wirtschaft hat die Finanzkrise und die folgende Rekordrezession noch nicht verdaut. Aber so fragil der Finanzmarkt bis heute in Europa ist, die aktuelle Krisenstimmung in Deutschland passt nicht zur Lage der Wirtschaft insgesamt. Nach und nach werden in diesen Tagen die Wachstumsprognosen nach oben geschraubt, die Stimmung in der Wirtschaft ist laut einer Umfrage unter 22 000 Unternehmen bestens, und die Arbeitslosigkeit sinkt sogar. Vielleicht ist es ein wenig untergegangen, aber Deutschland erlebt gerade einen Aufschwung. Das noch bis zum Jahresende laufende Konjunkturpaket mag seinen Teil dazu beitragen, aber vor allem ist er der Nachfrage aus boomenden Schwellenländern zu danken.

Die Wahrheit liegt auf dem Platz, und der liegt nicht in Toronto. Merkel und Sarkozy wären gut beraten, sich nicht in transatlantische Konflikte zu verstricken, sondern die einheitliche Haltung der EU zu festigen. Hier sind die entscheidenden Schritte für eine bessere Finanzmarktkontrolle und die Konsolidierung der Staatsfinanzen gemeinsam zu erzielen. Die Angst, im globalen Wettbewerb das Nachsehen zu haben, muss nicht zu groß werden – wie sollte denn Globalisierung ohne Europa funktionieren? Die Wirtschaftsregierung, mehr als Begriff denn als neue Institution, bezeichnet einen Fortschritt, weil ein Gestaltungsanspruch formuliert wird. Insofern war der EU-Gipfel in dieser Woche womöglich bedeutsamer, als es Toronto sein kann.

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