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Meinung: Ganz nah dran

Von Christoph von Marschall

Gestern waren sie im Bundestag alle Ukrainer – und Europäer gleich mit dazu. Als das Schicksal der Demokratiebewegung in Kiew Ende November auf der Kippe stand, hatten viele Abgeordnete ihre Sympathie mit Orangen gezeigt. Nun gaben sie Viktor „Sieger“ Juschtschenko die Ehre, unter der lichten Reichstagskuppel zu sprechen. Sie feierten ihn mit Standing Ovations und sich ein bisschen mit dazu. Gut so, das gehört zu den Sternstunden eines Parlaments. Der Jubel über den Erfolg der orangenen Revolution ist zugleich eine Erinnerung, dass die Freiheiten, die wir so ungestört genießen, auf dieser Erde nicht selbstverständlich sind.

Nur, wie geht das über den gestrigen Feiertag hinaus zusammen, Ukrainer und Europäer zu sein? Juschtschenko und die Bürger, die ihn unterstützen, sehen in der EUPerspektive den Lohn für ihren Mut und für den Reformwillen, der ihnen noch manche Härten abverlangen wird. In der Tat ist kaum zu begründen, warum für die Ukraine nicht dasselbe gelten soll wie für die Türkei. Ankara hat ein Datum für Beitrittsgespräche – nicht weil die Türkei beitrittsfähig wäre, sondern als Lohn für die begonnenen Reformen und als Ansporn, weiterzumachen. Unbescheiden oder unrealistisch kann man die von Juschtschenko genannte Frist von zehn Jahren gewiss nicht nennen. Brüssel und Berlin aber zieren sich. Sie vertrösten die Ukraine mit dem Verweis auf die neue Nachbarschaftspolitik. Angesichts der historischen Wende in Kiew klingt das ein wenig nach Abwimmeln.

Im Grunde haben beide Seiten Recht. Die EU muss die Mega- Erweiterung um gleich zehn neue Mitglieder vom Mai 2004 erst einmal verdauen. Die Erfahrungen mit den nächsten Kandidaten mahnen zur Vorsicht. Bulgarien und Rumänien sind noch lange nicht so weit wie Polen oder Ungarn. Kroatien will nicht mal Kriegsverbrecher ausliefern. In der Türkei erlahmt der Reformwille und werden Demonstranten verprügelt. Die EU weiß inzwischen, dass es einen Dauerstatus zwischen ganz draußen und ganz drinnen geben muss. Aber abgesehen von der Schweiz und Norwegen, die reindürften, aber bisher nicht wollen, fehlt ein Beispiel, wie es sich gut leben lässt – ganz nah dran an der EU.

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