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Gastkommentar: Keine Gottesstrafe

Wer Behinderten helfen will, muss die Umwelt an sie anpassen.

Ich höre, fühle, rieche, schmecke. Also bin ich. Und dies, obwohl ich seit der Geburt vor 66 Jahren nicht sehen kann. Wäre ich auch hier, wenn es damals schon die heutigen vorgeburtlichen Untersuchungsmöglichkeiten gegeben hätte? Die Ursache meiner Blindheit haben die Augenärzte in meinem Geburtsland Iran und in der Bundesrepublik, wo ich seit 1958 lebe, nicht herausgefunden. In unserer Familie konnten alle sehen. Ob meine zur Bildungsschicht gehörenden Eltern, die sich sehnlichst ein Kind wünschten, es auch im Wissen um sein Handicap akzeptiert hätten, ist zweifelhaft. In islamischen Ländern wird die Behinderung des Kindes als Gottesstrafe für die Sünden der Eltern angesehen.

In den entwickelten Ländern mit gut funktionierendem Gesundheitswesen und ordentlichen Hygienemaßnahmen werden die wenigsten Menschen mit einer Behinderung geboren. Die meisten Behinderungen bekommen sie im Lauf ihres Lebens – und dagegen sind Pränatalmedizin und Gentechnologie machtlos. Verkehrs-, Sport- und Badeunfälle bringen die Menschen um das Augenlicht oder zwingen sie für den Rest ihres Lebens in den Rollstuhl. Allergieerkrankungen entstehen in der Regel durch Umwelteinflüsse. Stundenlange unerträglich laute Musik in den Diskos und der Lärm von Straßen und Baustellen verursachen Hörschäden.

Wenn die Wissenschaft der Welt weismachen will, dass Behinderung und Krankheiten in Zukunft größtenteils vermeidbar sind, und sei es durch die Abtreibung erblich belasteter Föten, dann werden Menschen, deren Handicaps verschiedenste Ursachen haben, ihre Existenz rechtfertigen müssen. Wenn ich bedenke, wie oft ich nach dem Grund meiner Blindheit und ihren Auswirkungen bis in alle Einzelheiten gefragt werde, kann ich mir bei der zunehmenden Ellbogenmentalität in der Gesellschaft durchaus die Frage vorstellen: „Warum haben deine Eltern deine Geburt nicht verhindert?“

Als meine Eltern bei mir die fehlende Sehkraft bemerkten, waren sie völlig niedergeschlagen und konzentrierten alle Kraft auf die Behandlung der Blindheit – mit ihr zu leben und damit umzugehen, stand nicht im Mittelpunkt. Erst als auch die hoch angesehenen deutschen Augenärzte ihnen die Unheilbarkeit erklärt hatten, ließen sie mich mit Bildung und Ausbildung meinen Weg gehen. Ich glaube, dass sie die Traurigkeit über den blinden Sohn auch dann noch nicht loswurden, als ich im Beruf und sonst Erfolg hatte.

Wer Behinderten und ihren Angehörigen helfen will, muss die Lebensumwelt so gestalten, dass Menschen mit und ohne Behinderungen sie gleichermaßen erkennen, erreichen und nützen können. Dafür haben die Betroffenen mit langwieriger Überzeugungsarbeit fast alle Parteien in Bundes- und Länderparlamenten gewonnen. Die rechtlichen Voraussetzungen sind da. Sie müssen nun mit Leben gefüllt werden.

Als blind geborenes Kind in einem unterentwickelten Land hätte ich nicht im Traum an meine in der Bundesrepublik erreichte berufliche und gesellschaftliche Position mit Preisen und Auszeichnungen denken können. Ich hatte das Glück, Menschen zu begegnen, die mich zur Bildung ermutigt und mir eine Chance zur Bewährung gegeben haben. Pastor Ernst Jakob Christoffel aus Mönchengladbach, der eine Blindenschule im Iran gegründet hatte, versuchte, meine Eltern von der Bildungsfähigkeit der Menschen auch mit starken Behinderungen zu überzeugen. In seiner Schule lernte ich etwas Deutsch und Blindenschrift. Und als die Augenärzte in der Bundesrepublik die Unheilbarkeit meiner Blindheit feststellten, begann für mich mit der Bildung eigentlich erst das Leben. Ein Leben in Würde, das Ernst Jakob Christoffel für behinderte Menschen überall verwirklichen wollte. 1908 errichtete er in Malatia in der Türkei eine Schule für blinde, gehörlose und andere schwerstbehinderte Menschen – ohne Unterschied der Rasse und Religion.

2008 feiert die Christoffel- Blindenmission ihr 100-jähriges Bestehen. Mit 1100 Projekten verhilft sie in Asien, Afrika, Lateinamerika und Osteuropa schwerstbehinderten Menschen zur medizinischen, schulischen und beruflichen Rehabilitation. Damit handelt die Mission nach dem Credo ihres Gründers: „Vielleicht hat das Reinigen eines Straßenkindes mehr Wert als eine Predigt.“

Der Autor, von Geburt an blind, ist freier Journalist und lebt in Frankfurt am Main.

Keyvan Dahesch

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