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Gastkommentar: So sieht das Grundgesetz meines Herzens aus

Das Land braucht eine Verfassung, an der das Volk mitwirken kann. Doch vielen Entscheidern ist das Volk zu unberechenbar oder schlicht zu dumm. Doch nur wer dumm fragt, bekommt auch dumme Antworten.

Erklärt eine Verfassung das Volk zum Souverän, muss nach meinem Verständnis das Volk sie in Kraft setzen. Unser Grundgesetz hat sich ausdrücklich nicht als Verfassung definiert, siehe Artikel 146: Es verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist. So lebe ich also in einem demokratischen Land, das noch keine Verfassung im vollen Wortsinne hat. Damit ist nichts Nachteiliges über die Qualität und die Wirksamkeit des Grundgesetzes gesagt. Was ich mich frage, ist, warum wir die Lücke nicht längst geschlossen haben.

Im Herbst 1989 wollte das Volk der DDR eine richtige Verfassung. Das war in vielen Zielen des Aufstands enthalten: Menschenrechte, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit, demokratische Teilhabe an wirtschaftlichen Entscheidungen. Kein Volk hätte damals begeisterter eine neue demokratische Verfassung bestätigt. 1990, so wurde mir erklärt, wäre jedoch keine Zeit mehr dafür. Das Fenster zur Einheit sei nur kurze Zeit offen. Diesem Argument fehlt nach dem 3. Oktober 1990 jede Kraft. Danach wäre es sinnvoll gewesen. Es kam jedoch zu keiner Verfassung, lediglich zu einigen Änderungen des Grundgesetzes. Nicht einmal dieses Grundgesetz wurde zur Abstimmung gestellt – warum nicht?

Die Antworten auf solche Fragen, des juristischen Girlandenwerks entkleidet, laufen hinaus auf: Das Volk ist zu unberechenbar. Wer weiß, was für Antworten man bekäme, wenn man ihm wichtige Entscheidungen vorlegte. Meine Erfahrung von 1989 ist anders: Das Volk ist zu strategisch erstaunlich weitsichtigen Entscheidungen fähig, wenn es um die eigenen Lebensgrundlagen geht.

Nach meiner Überzeugung müsste in einer neuen Verfassung die direkte Mitwirkung des Souveräns an wichtigen Entscheidungen gestärkt werden. Es gibt doch gerade heute tief eingreifende Entscheidungen, die vom Volk bestätigt werden müssten. Wir übertragen Rechte an die EU, die weniger Unmut provozieren würden, wenn sie dem Volk erklärt und von ihm bestätigt würden. Wir führen seit zehn Jahren einen Krieg, tausende Kilometer entfernt, der als Entwicklungshilfe begann und kein Ende nimmt. Wir durchleben eine fundamentale Wirtschaftskrise und sehen Regierungsmaßnahmen, Enteignungen, vielmilliardenschwere Stützungen, ohne dass die geringste Rückkopplung an eine Volksentscheidung stattfände. Ich wäre schon interessiert zu erfahren, um ein kleines Beispiel anzuführen, was das Volk von den Abwrackprämien hält, die es bezahlt.

Die gängige Ablehnung von Volksbefragungen lässt sich herunterbrechen auf: Dafür ist das Volk zu dumm. Mein Argument dagegen lautet: Nur wer dumm fragt, bekommt dumme Antworten. Die Schweizer haben Erfahrung, nicht so dämlich zu fragen. Es ist politische Kunst, so zu fragen, dass eine sinnvolle Entscheidung zustande kommt.

Von einer Verfassung meines Herzens müsste die Parteienherrschaft (die das Grundgesetz eigentlich gar nicht vorschreibt) zurückgedrängt werden. Gesetzgebung und Exekutive sind in der Hand der Mehrheitsparteien, die Spitzenkräfte (Minister, Staatssekretäre, Abgeordnete) agieren meist in Personalunion, und die Wahl des Bundespräsidenten und der obersten Verfassungsrichter geschieht nach Parteiproporz. Gäbe es wenigstens eine hinreichend unabhängige und starke Kontrollinstanz (wie etwa in den USA), dann könnten wir auf einiges Dauerwahlkampf- und Teledemokratie-Theater verzichten. Regieren und Gesetzgeben sind zum speziellen Berufsbild geworden, mit Beamtenkarriere oder Ochsentour in Parteien. Eine Verfassung, die da Grenzen zöge, könnte zweifellos auf breite Zustimmung auch beim „dummen“ Souverän rechnen. Aber bis zum September bekommen wir das nicht hin. Und danach wird das Thema, wie schon so oft, wieder versenkt werden.

Jens Reich ist Molekularbiologe. Er war 1989 Mitbegründer des Neuen Forums in der DDR.

Jens Reich

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