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Gastkommentar: Wenn Kinder ein Segen sind

Warum eine Säkularisierung der Gesellschaft in die demografische Sackgasse führt.

Kaiser Augustus war verzweifelt. Schon lange hatten Historiker wie Polybios den Geburtenrückgang unter wohlhabenden Römern und Griechen beklagt, aber nichts hatte bislang geholfen. Statt eigene Kinder großzuziehen, adoptierte man lieber Sklaven oder verlangte staatliche Versorgung. Junge Völker drängten in das demografisch erlahmende Imperium, nahmen aber bei erfolgreicher Integration schnell die gleiche Dekadenz an. Augustus, dem die Bibel eine Volkszählung zuschreibt, versuchte es mit drakonischen Maßnahmen: Dazu gehörte eine gesetzliche Ehepflicht, Ehrenkleider für mehrfache Mütter und Beförderungen für Väter sowie Diskriminierungen (wie den Ausschluss vom Theaterbesuch) gegen Kinderlose. Es half nichts. Die Gesetze wurden flächendeckend ignoriert oder, etwa durch Scheinehen, unterlaufen.

Dabei starb keinesfalls das ganze Imperium aus. Beobachter wie Tacitus vermerkten voll ängstlichem Ressentiments den Zusammenhalt und Kinderreichtum der Juden und später Christen, deren Gott die übliche (auch religiöse) Beliebigkeit strikt ablehnte und Nachkommen als Segen verkündete. Während Zeus seine Hera ständig betrog, gebot dieser Gott bei Androhung dies- und jenseitiger Strafen die lebenslange, treue Ehe, gegenseitige Hilfe und verbot das Abtreiben und Aussetzen von Kindern. Vor allem unter Frauen, Zuwanderern und anderen bedrängten Gruppen fanden diese Lehren großen Widerhall und so wuchsen familienfreundliche Varianten des Christentums auch gegen Verfolgungskampagnen sowohl demografisch wie missionarisch. Bischof Valentin steht mitten in dieser Tradition: Er soll noch im 3. Jahrhundert den Märtyrertod gestorben sein, weil er gegen kaiserlichen Befehl auch Soldaten und ihre Lieben traute. Was heute oft als süße Belanglosigkeit behandelt wird, war eine machtvolle Botschaft: Glauben, Liebe, Familien sind auf Dauer stärker als Krieg und Macht. Wenige Jahrhunderte später war das Reich christlich geprägt und Rom zum Hauptsitz seiner größten Kirche geworden, die bald jedoch ihrerseits dynamischere Varianten zu unterdrücken verstand.

Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie bringt doch immer wieder Parallelen hervor. Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind die Geburtenraten europaweit unter die Grenze von zwei Kindern pro Frau gesunken. Und gerade unter den wohlhabenden, gebildeten, aber eben auch alternden und schrumpfenden Populationen wachsen wieder ängstliche Ressentiments gegen kinderreiche „Parallelgesellschaften“ gläubiger Muslime, aber auch frommer Juden und Christen.

Gleichwohl läuft diesmal vieles besser. Immer mehr Gesellschaften haben begriffen, dass man Menschen nicht zu Kindern zwingen kann, sondern Familien unterstützen sollte. Deshalb verzeichnen Staaten wie Schweden und Frankreich mit breiten Angeboten an Betreuungseinrichtungen höhere Geburtenraten als Spanien, Italien oder Griechenland, in denen das Weiterwirken traditioneller Familienbilder und der gleichzeitige Rückgang kirchlicher Betreuungseinrichtungen die Menschen überfordern. Aber ob in Ost-, Süd- oder Westdeutschland, den USA, Schweden, Spanien, Russland oder England: Überall haben jene Menschen durchschnittlich mehr Kinder, die sich in Religionsgemeinschaften einbringen. In den Städten und mit steigender Bildung nimmt der relative Unterschied sogar zu, denn die Karriere- und Finanzkosten für Ehe und Familie steigen, Kinder werden zur Wert(e)frage. Und während wir weltweit Religionsgemeinschaften etwa der Old Order Amischen, Hutterer oder orthodoxen Juden kennen, deren Kinderreichtum seit Jahrhunderten anhält (und gar nicht ohne den Faktor Religion zu erklären ist), haben wir bislang weltweit keine einzige säkulare Population gefunden, die auch nur zwei, drei Generationen hinweg demografisch stabil geblieben wäre. So ergibt sich das Bild einer historischen Konjunkturkurve: Säkularisierungsprozesse finden immer wieder statt, wo es den Menschen gut geht und sie Religion(en) nicht mehr zu brauchen meinen – führen dann jedoch unweigerlich in die demografische Sackgasse, wogegen vitale Religionsgemeinschaften immer wieder nachwachsen.

Erfreulicherweise sind aber auch Invasionen dynamischer Völker nicht mehr zu befürchten: Mit fortschreitender Modernisierung brechen die Geburtenraten weltweit ein und sind auch in der Türkei, dem Iran und den ersten Regionen Indiens bereits unter 2,1 gefallen. Laut UN-Prognosen dürfte die Weltbevölkerung in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts wieder in eine Schrumpfung übergehen – für unseren von Umweltzerstörung und Kriegen gezeichneten Planeten wirklich keine schlechte Nachricht.

Freilich ist unklar, was vom heutigen Deutschland demografisch, kulturell, wirtschaftlich und politisch überleben wird. Unsere Bevölkerung schrumpft nicht nur, sie implodiert. Und Zuwanderung alleine ist keine Lösung. Wie schon bei Augustus schrumpfen erfolgreich integrierte Gruppen schnell mit: Säkulare Muslime haben genau so wenig Kinder wie säkulare Christen, Juden oder Hindus. Und schon längst hat der internationale Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte begonnen. In 2009 verzeichnete Deutschland nicht nur einen massiven Sterbe-, sondern auch einen Abwanderungsüberschuss. Längst knirscht es nicht nur in den Rentenkassen, sondern auch an den Finanzmärkten: Weltweit immer mehr Sparer, aber immer weniger Anlagemöglichkeiten. Und wer von den sinkenden Zinsen leben muss, taumelt zunehmend verzweifelt von einer Finanzblase in die nächste. „Asset meltdown“ flüstern sich nachdenkliche Ökonomen zunehmend ratlos zu. Ob in Zukunft japanische Roboter das Alter sichern? Oder doch wieder Kinder?

Gerade auch an Forschungen besonders kinderreicher Gemeinschaften erkennen wir zunehmend, wie Religionen Familien fördern. Genauer gesagt, wie dies wenige schaffen: Die meisten religiösen Varianten scheitern. Viele vergehen leise wie die komplett zölibatären Shaker, die in ihren besten Zeiten immerhin einige tausend Mitglieder gewonnen hatten, andere enden katastrophal in Extremismus und Selbstmorden. Aber wie man gerade auch an der Geschichte des Christentums oder Buddhismus schön erkennen kann, setzen sich auf Dauer immer wieder nur familienfreundliche Varianten durch. Auch Zölibatäre begründen nur so lange erfolgreiche Traditionen, wie sie Ehen und Familien der Gemeinde glaubwürdig unterstützen – wie der legendäre Bischof Valentin.

Das Erfolgsgeheimnis vitaler, religiöser Traditionen liegt – wie es der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek (1899 bis 1992) als erster formulierte – in der richtigen Mischung aus Rigidität (Strenge) und Flexibilität (Anpassung).

Das geht auf der individuellen Ebene los: Der Glaubende, der sich von Gott zu Fruchtbarkeit aufgerufen fühlt (nach Genesis 1,28 übrigens die ersten Worte und das erste Gebot Gottes an den gerade erschaffenen Menschen) und Sexualität erst in der Ehe lebt, wird durchschnittlich früher heiraten und sich für mehr Kinder entscheiden als der säkulare Nachbar. Unrealistische Gebote wie der komplette Verzicht auf Verhütung und Familienplanung erleiden dagegen das Augustus-Schicksal: Sie werden nach einiger Seelenqual flächendeckend ignoriert und führen zum Autoritätsverlust der Verkünder. So wägen auch die traditionellsten, vitalen Gemeinschaften immer wieder ab, welche Neuerungen sich mit ihrer Lebensweise vereinbaren lassen: Amische fahren Rollerblades, die Hutterer nutzen computerisierte Maschinen und orthodoxe Juden befürworten modernste Medizin und Gentests vor Eheschließungen.

Der gemeinsame Glaube an beobachtende Ahnen oder Gottheiten stärkt Vertrauen und Kooperation auf sozialer Ebene – solange nicht zu oft betrogen wird. Erfolgreiche Gemeinschaften verlangen ihren Mitgliedern daher auch etwas ab: Etwa Speise- oder Kleidungsgebote, Engagement oder Opfer. Wird zu wenig verlangt, erkaltet die Verbindlichkeit und die lauen Gemeinschaften zerbröseln. Aber auch ein Zuviel kostet Mitglieder. Dabei ist es interessant zu beobachten, dass das meiste Engagement in Religionsgemeinschaften von Frauen geleistet wird, die auch die Erfolgsbasis des frühen Christentums bildeten. Häufig werden Männern dabei die sichtbaren Rollen zugestanden – wenn sie dafür die verbindlichen Sozialstrukturen akzeptieren und stärken. Die Forschungen dazu stehen noch am Anfang, doch lässt sich schon sicher sagen: Die Bedeutung von Frauen für die Formation und Ausbreitung erfolgreicher Religionen ist von den Wissenschaften einschließlich der Theologien bislang völlig unterschätzt worden.

Von enormer Bedeutung ist schließlich die institutionelle Ebene: Erfolgreiche Religionen fordern nicht nur Familienverhalten, sondern ermöglichen es auch. Netzwerke gegenseitiger Unterstützung, die sprichwörtliche Versorgung der „Witwen und Waisen“ und der Aufbau von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen gehören zu den ältesten Erfolgsrezepten vitaler Religionen. Feste, Zeltlager und wechselseitige Besuche stärken die Gemeinschaft und helfen den jüngeren Generationen, untereinander zarte Bande zu knüpfen. Meist werden unter Glaubenden auch Familienbegriffe (Vater, Mutter, Bruder, Schwester etc.) verwendet. Und auch unser Begriff der Nonne hat nicht zufällig gemeinsame Wortwurzeln mit Großmüttern und Erzieherinnen, den Nonnas und Nannys.

Gemeinschaften wie die Zeugen Jehovas oder die Neuapostolische Kirche, die ihren Mitgliedern traditionelle Familienrollen abverlangen, sie aber kaum durch entsprechende Institutionen unterstützen, weisen heute europaweit zurückgehende Geburtenraten auf. Und hatten europäische Katholikinnen Anfang des 20. Jahrhunderts noch mehr Kinder als ihre evangelischen Schwestern, so führen heute moderne, evangelische Freikirchen mit vielfältigen Familienrollen und Kinderbetreuung die innerchristliche Demografie an. Wo immer sich aber junge Familien um geeignete Einrichtungen bilden, kommen auch Suchende hinzu – die Anthroposophie lebt durch ihre Waldorfschulen.

Der Staat kann viel tun, um die allgemeinen Geburtenraten zu heben. Und doch bleiben Ehe und Kinder immer auch Wertefragen. Soll die Schrumpfung unserer Gesellschaft wenigstens abgemildert werden, so braucht es neben der weiteren Modernisierung von Familienpolitik auch eine religiös und kulturell lebendige Landschaft. Religionsfreiheit ist dafür unverzichtbar – wozu auch immer gehören muss, Gemeinschaften verlassen und wechseln zu dürfen. Und wer möchte ausschließen, dass nicht auch Säkulare demografisch erfolgreiche Traditionen begründen könnten!? Nur zu!

Ebenso wenig wie politische Parteien sind Religionen oder Weltanschauungen „an sich gut“. Die wenigsten Neugründungen bestehen den freiheitlichen Wettbewerb. Auch Grenzziehungen bleiben notwendig. Selbst in den sehr freien USA musste der Staat gegen Fälle erzwungener Polygamie, Zwangsverheiratung und Extremismus vorgehen. Auf der anderen Seite dürfen wir jene bewundern, die sich von ihrem Gott in den Dienst von Liebe, Familien und Gemeinschaft nehmen lassen. Sie gestalten Zukunft. Der legendäre Bischof Valentin hat die Kernkompetenz der Religion verstanden.

Michael Blume

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