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Mensch und Tier: Gebt dem Affen Recht?

Tiere als Rechtssubjekte: Versuch über die prekäre gesellschaftliche Evolution der Tierliebe.

Von Caroline Fetscher

Als Washoe nach Amerika kam, im Juni 1966, war sie etwa ein Jahr alt. Großgezogen wurde sie dort von Allen und Beatrice Gardner, einem Forscherpaar der Universität Nevada. Da Washoe nicht sprechen konnte, gingen die Gardners mit ihr um wie mit einem taubstummen Kind. Doch Washoe war kein Kind. Sie hatte dichtes, dunkles Fell, eine platte Nasenpartie, lange Arme und Beine. Washoe war eine Schimpansin, ein Affe der afrikanischen Art Pan troglodytes verus. Ein Menschenaffe, der zum menschlichen Affen mutieren sollte und, wohlgemerkt, aufgezogen wurde „wie ein Kind“. Diese semantische Spur wird sich als zentral und relevant erweisen.

Angehörige der amerikanischen Luftwaffe hatten das Tier von Jägern in Westafrikas Regenwäldern erhalten und es in ein Versuchslabor des Luftwaffenstützpunkts von Neu-Mexiko transportiert. Dort fanden es die Gardners, kauften es, tauften es nach einer Region Nevadas und setzten Washoe für ihre psychologische Forschung ein, auf der Suche nach Belegen für die kognitiven Spielräume von Primaten. Mit den Gardners forschte ein ganzes Team von Wissenschaftlern, spielte mit Washoe, scherzte und schimpfte mit ihr – und lehrte sie Zeichen der amerikanischen Gebärdensprache. Washoe lernte und wurde zu einer Sensation für Welt und Wissenschaft.

Vernunft und Sprache, diese beiden Charakteristika unterscheiden Menschen von Tieren. Washoes Aufgabe war es, in den Händen der Forschung zum Ausweis eines Gegenbelegs zu mutieren. Als wohl erstes, nichtmenschliches Wesen erlangte, so die Forscher, hier ein Tier einen Ansatz von Sprachfähigkeit. Mehr als 200 Ausdrücke soll Washoe beherrscht haben (Kritiker lassen nur knapp zwei Dutzend gelten); die Sätze der Schimpansin wiesen bis zu drei Worte auf. Am 30. September 2007 starb das berühmte Tier in Washington an Altersschwäche. In Nachrufen rühmten Pfleger und Halter Washoes „Sinn für Humor“. Sie sei „fair und freundlich“ gewesen, sie habe „Loyalität“ gegenüber befreundeten Menschen wie Schimpansen gezeigt. Washoe, sagten sie, schätzte das Blättern in Schuhkatalogen. Mehr noch als dem Standard-Haustier Hund schrieb man Washoe Eigenschaften zu, die wenngleich schlicht, den menschlichen gleichen.

Jenseits der kolonialen und postkolonialen Zuneigung angesichts niedlicher, komisch-unterhaltsamer Haustieräffchen oder faszinierend bedrohlicher Safari- und Zoogorillas trat mit Primatenforschung wie dieser eine neue Art menschlicher „Affenliebe“ auf den Plan. Sie erfand, lange nach Charles Darwin, den Affen als Verwandten noch einmal neu. Nicht nur war er genetisch dem Homo Sapiens nahe, er war darüber hinaus geradezu sein sozialer Nachbar. So löste sich die Haltung der Forscher selber aus dem kühlen, nüchternen Ambiente des Wissenschaftlichen heraus. Alle Affen werden Brüder – unsere Brüder! schien es zu heißen. Naturschützer „adoptierten“ also Affen, eine Kampagne entspann sich, die derzeit ihre Höhepunkte erreicht: Im Juni 2008 hat als erstes Parlament der Welt das spanische Abgeordnetenhaus in Madrid diskutiert, ob Primaten, Menschenaffen, womöglich zu Grundrechtsträgern erklärt werden sollten. Motivierend wirkte dabei das „Großaffenprojekt“ (www.greatapeproject.org). Für das vor 14 Jahren gegründete Projekt zum Schutz großer Menschenaffen mit Sitz in Seattle, dem weltweit Wissenschaftler von siebzig Universitäten in den USA, Brasilien, Kanada, Chile, Singapur, Südafrika, Österreich und Spanien angehören sind Primaten wie Washoe zu ideologischen Magneten und Beweis-Objekten geworden, in denen Biologie und Ethik einen problematischen Pakt eingehen. „Die Welt hat ein inspirierendes Individuum verloren“, trauerten Wissenschaftler des Great Ape Projects beim Tod von Washoe. Wenn Primaten uns Menschen derart ähneln, nicht nur genetisch, sondern auch sozial und emotional, dann müssten sie doch zumindest partiell, den Status von Rechtssubjekten erhalten, fordert die Initiative. Aufgrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse scheinen die stummen, von Instinkten gesteuerten Kreaturen „uns“ so ähnlich geworden, dass ihnen Recht zustehen. „Wir fordern die Ausweitung der Gemeinschaft Gleichberechtigter auf alle Großaffen: Menschen, Schimpansen, Bonobos, Gorillas and Orang-Utans“, erklären die Campaigner in ihrem Manifest unter dem Motto „Equality beyond Humanity“ („Gleichheit jenseits der Menschheit“). In dieser Gemeinschaft – es heißt explizit nicht „Gesellschaft“ – gälten „grundsätzliche, moralische Prinzipien“, die rechtswirksam einklagbar wären. Drei davon sind zentral: Das Recht auf Leben, der Schutz individueller Freiheit und das Verbot der Folter. So dürfe keines der aufgelisteten Individuen „ohne ordentlichen, juristischen Prozess“ seiner Freiheit beraubt werden. Erreicht werden soll nicht mehr und nicht weniger als eine neue Dimension im Verhältnis von Mensch und Tier. Wohin werden Washoes gestisch artikulierten „Worte“ das Verhältnis zwischen Mensch und Tier noch führen? Was wären die Implikationen?

Ganze Epochen in der Evolution der Beziehung von Menschen zum Tier trennen die Forschung der Zeitgenossen von ihren Vorläufern. Das europäische Mittelalter kannte zwar Tiere als Gegenstand der Justiz, jedoch im umgekehrten Sinn, als Angeklagte. Hatten Ratten Saatgut vernichtet, Borkenkäfer Baumrinden zerknabbert oder ein Gaul einem Bauern den Hinterhuf an den Kopf gehauen, wurden die Tiere in Kirchen vor ein religiöses Gericht gestellt und von einem Kleriker verurteilt, gelegentlich auch, unter Hinweis auf ihr Lebensrecht als Kreaturen Gottes, freigesprochen, wie 1497 die gefräßigen „Laubkäfer“ in einer Schweizer Ortschaft, was die historische Überlieferung sehr schön festgehalten hat.

Exotische Lebewesen waren, zumal in der Fantasie der kolonial gewordenen Europäer, ambivalente Objekte der Abscheu wie Faszination, enorme Projektionsflächen. In Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ (1809) notiert die zarte Ottilie, nachdem sie naturwissenschaftliche Zeichnungen betrachtet hat: „Wie man es nur über das Herz bringen kann, die garstigen Affen so sorgfältig abzubilden. Man erniedrigt sich schon, wenn man sie nur als Tiere betrachtet.“ Bereits der optische Kontakt mit Repräsentationen von derlei wilder Natur ist für Ottilie bedrohlich, und über Tropenreisende mutmaßt sie: „Niemand wandelt ungestraft unter Palmen.“ Wenngleich Goethe vor allem Ottilies weibliche Hyperempfindlichkeit schildern wollte, hatte, was er ihr in den Mund legte, dennoch zeittypischen Aussagecharakter.

Eskaliert ist die abendländische Affenangst, als Darwin 1859 mit seiner Abhandlung vom „Ursprung der Arten“ der Krone der Schöpfung eine exorbitante narzisstische Kränkung zufügte. Aus dem anthropozentrischen Kosmos, bevölkert von Adam, Eva und deren Schöpfergott, aus einem Kosmos, worin nicht-menschliche Kreaturen mythische Objekte, totemistisch besetzte Ahnen oder schlichte Nutztiere waren, entstieg durch die Evolutionstheorie Darwins die Fauna, insbesondere aber der Affe, als biologische Verwandtschaft der Menschen. Dermaßen schockierend wirkte Darwins „Origin of Species“, dass seine Erkenntnisse bis weit ins 20. Jahrhundert (und gelegentlich bis heute) zornige Attacken auf sich zog. Zu einem spektakulären Showdown kam es 1925 im sogenannten „Affenprozess“ in Dayton, Tennessee in den USA, später überzeugend verfilmt mit Spencer Tracy als Anwalt. Auslöser des „Monkey Trial“ war der junge Biologielehrer John Scopes, der seinen Schülern Darwins Evolutionslehre beibrachte, wofür er vom religiösen Establishment verfolgt wurde und sich, durch eine Absprache, freiwillig anklagen ließ. Presse aus ganz Amerika umlagerte den Prozess, der in der Sommerhitze zu einem Riesenrummel wurde, zu dem Zuschauer angeblich Schimpansen als „Zeugen“ mit sich führten. „Gewinnt die Evolution, dann verliert das Christentum!“, schmetterte der Methodistenprediger Byrant seiner Daytoner Gemeinde zu. Scopes kam mit der milden Buße von 100 Dollar davon, doch es dauerte bis 1968, dass es in den USA für verfassungskonform erklärt wurde, die Evolutionslehre zu unterrichten.

Nun ging es im Fall Scopes um das Recht, die Abstammung der Menschen vom Affen zu behaupten. Der heutigen Kampagne wie im „Great Ape Project“ geht es um das Recht der Affen, als Verwandte der Menschen zu gelten. Die Schimpansin Washoe und ihr menschlich wirkendes Lernverhalten setzten eine Lawine in Gang, die weiterrollt. Wie „menschlich“ ist ein Affe, was „fühlen“ und „denken“ Tiere? Wie viel Schutz brauchen und verdienen sie? Wie dürfen menschliche Gesellschaften mit ihnen verfahren? Was ist ethisch, philosophisch, politisch legitim und sinnvoll?

In Spanien hatte die Forderung der Großaffenschützer nun erstmals politische Konsequenzen. Auf Initiative der sozialistischen Regierungspartei debattierte das Parlament, wie die Rolle der Rechte für Primaten aussehen könnte. Aktivisten erklärten dort, stoisch oder aufgebracht, sie würden „kritisiert wie einst die Sufragetten, als sie das Wahlrecht für Frauen wollten, oder die Gegner der Sklaverei“, und solche Gegnerschaft sei nunmal „eine Konstante in der Geschichte“ im Kampf um mehr Rechte. Pedro Ynterian, der brasilianische Leiter und designierte Direktor des Gesamtprojekts für die Großaffen, feierte Spaniens Vorstoß als kolossale, historische Leistung. Es ist gleichwohl eine extrem prekäre. Dass der Schutz infantil besetzter Tiere die Gemüter erobert hat, von „Lassie“, „Fury“ und „Daktari“ bis zum Eisbärbaby Knut und dem Problembär Bruno, lange ehe der Kinderschutz die Menschheit beschäftigt, lässt hellhörig werden und andere Zusammenhänge aufdecken. In Deutschland etwa hat der größte Katalysator des Naturschutzes, Bernhard Grzimek, seinen „Platz für Tiere“ ab 1956 zum Quotendynamo werden lassen, die – ebenfalls sentimentale, unaufklärerische Aktion „Ein Herz für Kinder“ entstand 1978, das Gesetz, das Gewalt gegen Kinder verbietet, wurde im November 2000 vom Bundestag verabschiedet. Zum „Tierschutz“ weist Google 2 910 000 Treffer aus, zum „Kinderschutz“ 665 000. Tiere sind die gängigsten Projektionsobjekte für hilflose, sprachlose, infantile Wesen, für das frühe Triebhafte und die Unschuld des Menschenkindes. Im Ausdruck „Schoßhündchen“ ist beides enthalten: Der Schoß, also die Intimregion, sowie das Verniedlichende, die Infantilität. Wo obsessive Zuwendung zum „leidenden Tier“ auftaucht, ist in der Regel unbewusst von enormen Sehnsüchten, Verdrängungen und Hoffnungen in Bezug auf Erlittenes in der Kindheit die Rede, wie der französische Philosoph Luc Ferry in seinem Buch über die „Neue ökologische Ordnung“ schon 1992 luzide beschrieb, und vor einem „Öko-Totalitarismus“ warnte.

Debatten um „Eigenrechte der Natur“ sind übrigens keineswegs neu. Auch sie sind stets Ausdruck von Projektionen gewesen. Bereits der saure und bittere Schopenhauer, beeinflusst von dem, was er für indisches Denken hielt, wünschte sich eine neue Tierethik, für die Vernunft oder Unvernunft einer Kreatur nicht ausschlaggebend für deren Status wäre. 1978 waren „Eigenrechte der Natur“ Thema auf dem Deutschen Juristentag und Bundespräsident von Weizsäcker hielt den „Schutz der Natur um ihrer selbst willen“ für denkbar. In Grundsatzerklärungen forderten der Rat der Evangelischen Kirche wie die katholische Bischofskonferenz das „Überwinden“ hergebrachten Naturverständnisses, und „im Namen der Robben“ strengte die Umweltschutzorganisation Greenpeace 1988 als „strategische Symbolklage“ einen Prozess gegen Industriekonzerne an, die toxischen Müll in die Nordsee verklappten.

Typischerweise provozieren Vorstöße wie der Einsatz für Affenrechte drei Varianten an Reaktionen. Grob skizziert: „Lächerlich!“, „Endlich!“ oder „Wer weiß schon?“ Jede Reaktion ist dabei eher auf der Suche nach ihren Begründungen und Argumenten, als dass diese aus ihr hervorgingen. Auch wenn sich die Streitenden philosophische Kleider anziehen, es bleiben emotionale Reaktionen mit politischem, gesellschaftlichem Charakter, die nur im symbolischen und symptomatischen Kontext entzifferbar werden. Vorsicht vor der Illusion des „Tieres“: Wo Gesellschaften Heranwachsende ohne Gewalt gedeihen lassen, werden alle, auch die nicht-menschlichen Kreaturen, besser behandelt. Der umgekehrte Ansatz generiert Regression statt Fortschritt.

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