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Ein Mitarbeiter der Rettungsdienste hält das Bein eines Zivilisten während einer Exhumierung im kürzlich zurückeroberten Gebiet von Isjum in der Ukraine.

© Foto: dpa/AP/ Evgeniy Maloletka

Geschichte vor Gericht: Waren Butscha, Dresden und Hiroshima Kriegsverbrechen?

Das Gesetz gegen Volksverhetzung wurde verschärft. Künftig soll die Verharmlosung und Leugnung aller Völkermorde und Kriegsverbrechen verboten sein.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Man stelle sich eine Welt vor, in der alles verboten ist, was andere Menschen verletzt oder empört. Jedes Verhalten und jede Äußerung, die unangenehme Gefühle auslöst, wäre untersagt. Das wäre eine friedliche, von Respekt geprägte Welt. Hass und Hetze, Verunglimpfung und Herabsetzung wären aus dem öffentlichen Raum verbannt. Es wäre aber auch eine Welt, die aus edelsten Motiven den Geist des Illiberalismus verströmt.

In der vergangenen Woche hat der Bundestag ohne jede Anhörung und zu fast mitternächtlicher Zeit das Strafrecht verschärft. Es war der letzte Tagesordnungspunkt. Die Änderung findet sich in einem Anhang zur Reform des Bundeszentralregisters. Kein Wunder, dass die Öffentlichkeit erst mit Verzögerung von der Sache erfuhr.

Verschärft wird der Paragraph 130 des Strafgesetzbuches zur Volksverhetzung. Bislang war die Billigung, Leugnung und Verharmlosung des Holocaust verboten. Künftig soll auch das Leugnen oder die „gröbliche“ Verharmlosung eines jeden Völkermordes sowie von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen strafbar sein – vorausgesetzt, es werde durch die Äußerung zum Hass gegen eine Gruppe aufgestachelt oder der öffentliche Frieden gestört.

Es geht um Opferschutz und nationale Identität

Auch Geschichte kann wehtun. Deshalb haben Staaten immer wieder Gesetze erlassen, die bestimmte Äußerungen über historische Ereignisse verbieten. In Deutschland ist seit vielen Jahren die Billigung, Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust verboten. In Argentinien dürfen die von der Militärjunta begangenen Verbrechen nicht geleugnet werden, in Frankreich nicht der Völkermord an den Armeniern, in der Türkei wird bestraft, wer Atatürk beleidigt. Es geht um Opferschutz und nationale Identität.

In Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik dürfen neben dem Holocaust auch die kommunistischen Verbrechen nicht bestritten werden. Eine solche Parallelisierung steht in Deutschland wiederum schnell unter Verdacht, die Singularität der Shoah in Frage zu stellen. Geschichte richtig zu deuten, ist eine Wissenschaft, die von einem freien Meinungsaustausch lebt.

Deshalb sollte die Politik mit gesetzlichen Vorgaben darüber, was von wem über wen gesagt werden darf, vorsichtig sein. Sollen Richter heute noch entscheiden, ob das Flächenbombardement auf Dresden im Zweiten Weltkrieg ein Kriegsverbrechen war? Oder die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki?

Es lassen sich Konstellationen denken, in denen das auf eine Weise geleugnet wird, die den öffentlichen Frieden stört. Seriöse Historiker streiten bis heute über solche Fälle.

Etwas willkürlich muten auch einige Differenzierungen an. Wer den Holocaust leugnet, kann mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Wer den deutschen Völkermord an den Herero und Nama leugnet, kommt künftig drei Jahre ins Gefängnis. Begründet wird das unterschiedliche Strafmaß mit der Einzigartigkeit des Holocaust. Und während der Holocaust gar nicht verharmlost werden darf, wird bei anderen Genoziden und Kriegsverbrechen nur eine „gröbliche“ Verharmlosung geahndet. Was auch immer das sein mag.

Wird künftig bestraft, wer den Völkermord an den Armeniern gröblich verharmlost oder den Holodomor in der Ukraine oder die russischen Kriegsverbrechen in Butscha? Solche Äußerungen wären zweifellos geeignet, Hass zu schüren und den öffentlichen Frieden empfindlich zu stören.

Aber eine Gesellschaft, die nicht mehr bereit ist, auch Unerträgliches zu ertragen, tendiert zur Abschaffung von Dissens und Streit. Am Ende ist „Freiheit“ dann nur noch ein Wort.

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