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Meinung: In Hartzvieristan

Roger Boyes, The Times

Neulich kam ich von einer Reise zurück und holte Mac, meinen dreckigen weißen Terrier, vom Hundesitter ab. Wie immer fühlte ich mich schuldig. Es ist das Schicksal meiner Generation, sich schuldig zu fühlen – am Schicksal vernachlässigter Kinder, Eltern, Freunde, Angestellter. Diesmal also mein Hund. Ich ging mit ihm in den Weinbergspark in Mitte, damit er sich mit seinen Hundekumpeln über die Unzulänglichkeiten der menschlichen Rasse austauschen konnte. Als ich da so saß und Kaffee auf der Terrasse vom Nola’s trank – der Ort, an dem Brad Pitt und Angelina Jolie kürzlich das authentische Berlin suchten –, schnüffelte Mac an den Spritzen herum.

Heutzutage ist es ja gar nicht so einfach, einen geeigneten Platz in einem Park zu finden. Wer zu lange auf dem Kinderspielplatz sitzen bleibt, gilt als Pädophiler, und wer sich auf die Bänke setzt, die von den Dealern benutzt werden, gilt als Konkurrent. Das Nola’s war ein guter Ort – bis zu dem Moment, als unten im Park zwei Polizisten vom nahe gelegenen Revier 31 drei Dealer verfolgten. Es waren Türken oder Kurden (Bild würde euphemistisch von „Südländern“ sprechen), und sie waren eindeutig schneller.

Von der Terrasse aus sah das Spektakel aus wie eine Folge der Keystone Kops. Da sah ich Mac. Total aufgeregt war er kurz davor, einen der Polizisten zu beißen. Es war Zeit, ihn vom Tatort zu entfernen. Also ging ich runter, nahm ihn an die Leine und setzte mich auf eine Bank in der Hundescheißezone rund um die Heinrich-Heine-Statue, um mein Buch zu lesen. Die paar Meter vom Nola’s zu Heine sind der Abstieg nach Hartzvieristan. Während ich Joachim Fests Memoiren las, wurde mir in 15 Minuten gleich zweimal eine reichhaltige Auswahl Drogen angeboten.

Mich hat das nicht geärgert. Warum eigentlich? Die Reiseführer, die von Berlins Parks prahlen, sie schreiben nichts darüber, was die Stadt aus ihrem Grünraum macht. Über die Türken, die im Tiergarten grillen, die Schwulen an der Siegessäule, die Bodybuilder, die neben der Shakespeare-Statue Anabolika verkaufen.

Oder eben über den Weinbergspark. Ja, die Drogendealer sind eine Plage, doch man lernt, sie abzuschütteln wie Moskitos. So machen es auch die schicken Mütter – die mit dem Prenzlberg-, nicht mit dem Ku’dammchic. In England hätte längst das eingesetzt, was sie gentrification nennen: Entnervte Mittelklassefamilien hätten auf Lokalpolitiker Druck ausgeübt, die wiederum auf die Polizei, um den Park zu säubern. Hier am Weinbergspark ist das anders, hier herrscht so eine Art Abmachung, ein Leben und Lebenlassen. Im Hartz-Jahr drei haben sich die sozialen Verhältnisse geändert. Als ich in den 90er Jahren junger Vater war, da war Armut eine Schmach und eine geheime Welt. Mütter gingen in die Schule und erklärten ihr Kind für krank, um zu verheimlichen, dass sie kein Geld für die Klassenfahrt haben. Heute ist Armut respektiert, fast in Mode. Man sucht sich so seine Nischen und Schleichwege, ist es doch das Versagen des Staates, nicht so sehr das eigene, das einen verarmen lässt. Die Unterhaltung auf der Nachbarbank im Weinbergspark geht über die neue Regelung, die Hartz-IV-Empfängern den Besitz von Autos erschwert, die teurer sind als 10 000 Euro. Zwei Frauen tauschen die Nummern eines Automechanikers aus, der den Wert der Wagen niedrig schätzt.

Erst jetzt merke ich, was aus dem Weinbergspark, dieser DDR-Grünfläche mit Hundescheiße, geworden ist: ein Widerstandsnest. Das ist es, was sich geändert hat, irgendwann zu Spät-Schröder/Früh-Merkelzeiten. In den 90ern wären arme Menschen empört gewesen über Drogendealer in der Nähe ihrer Kinder oder ihrer Kitas. Die neuen Armen akzeptieren ihre Präsenz dagegen, sie sehen sie als Teil ihrer eigenen Identität – als Teil des Widerstands. Moralische Kategorien verschwimmen da.

Doch wenn die Polizei Dealer durch einen Park jagt, ist das einfach nur ein amüsantes Spektakel? Es sollte uns eher zum Nachdenken bringen. Diese neue, urbane Apathie – ich mag sie nicht. Ich mag die neue Welt nicht, die wir geschaffen haben.

Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Bickerich.

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