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Italien: Wem die Stunde dreimal schlägt

Italien ist anders. Und Italien stehen harte Zeiten bevor. Das sagt selbst der Chef-Illusionist Silvio Berlusconi.

Italien, das in zwei Wochen eine neue Regierung wählen soll, dieses Italien gibt es nicht. Zumindest nicht für die Italiener. Italien gibt es von Bozen bis Palermo eigentlich nur alle vier Jahre, wenn Fußballweltmeisterschaft ist. Wenn die Squadra Azzurra die Nation, die so recht keine sein will, unter dem Blau des Himmels und des Meeres, unter der Lieblingsfarbe der italienischen Tricolore vereint.

Als im letzten Jahrhundert der Hamburger SV einmal den damals noch so genannten Europapokal der Landesmeister gegen Juventus Turin gewann, sah man am nächsten Tag nahe bei Rom viele Aufschriften an den Hauswänden. Ihr Slogan: „Grazie Amburgo“. In Rom selbst hatte es am Vorabend in einer Bar, als Hamburgs Magath das Siegestor schoss, Beifall unter den italienischen Fernsehzuschauern gegeben. Freilich nicht, weil sie die Deutschen (oder gar deren Fußball) so sehr ins Herz geschlossen hätten.

Dass die Deutschen die Italiener lieben oder um ihr Klima und ihre Lebensart beneiden, aber nicht unbedingt achten, während die Bewohner der Apenninhalbinsel ihre nördlichen Nachbarn zwar ihrer Technik und Präzision wegen achten, aber nicht gerade lieben – es ist ein Klischee. Doch es enthält bis heute ein dickes Korn Wahrheit. Ebenso hat sich nichts daran geändert, dass Championsleague- Niederlagen beispielsweise der beiden Mailänder Clubs schon in Turin oder Verona offene Schadenfreude auslösen. Und kein Mitleiden der Tifosi, der landesweiten Fußballfans.

Manchmal eint sich Italien auch dadurch, dass es sich von außen angegriffen fühlt. Nicht durch Waffen, aber durch Kritik. Vor allem von Deutschen, denen zumindest in der Vergangenheit nicht zu Unrecht oft Überheblichkeit vorgeworfen wurde. Während man ihre schwärmerische Italienliebe eher humorvoll und unter touristischen Aspekten ganz gerne erträgt.

Diese „nationale Karte“, die ein sonst eher zersplittertes Volk gegen einen äußeren Gegner eint, versucht in der Endphase des italienischen Wahlkampfs gerade wieder Silvio Berlusconi zu spielen. Es geht dabei um den angeblichen „Ausverkauf“ der nationalen Fluglinie Alitalia an die Air France. Allerdings ist die hoch subventionierte Alitalia kein stolzer Zugvogel mehr. Sondern infolge zahlloser Fehlinvestitionen und maroder Strukturen ein notorischer Pleitegeier, den die zuletzt gescheiterte Regierung des Ministerpräsidenten Romano Prodi seit anderthalb Jahren zu verkaufen sucht.

Das nun eher überraschende, weil überraschend großzügige Übernahmeangebot der Air France hat der zweimalige frühere Ministerpräsident und Medienmogul Berlusconi als Angriff auf ein Stück italienischer Identität dargestellt. Als Folge zudem der misslungenen Wirtschaftspolitik Prodis – und Berlusconi behauptet, demnächst selber für jene italienischen Käufer („notfalls auch meine Kinder!“) zu sorgen, die aus naheliegenden Gründen im Dunkel bleiben.

Ein Bluff immerhin. Ein taktischer Coup, der Berlusconis Rivalen Walter Veltroni zumindest kurzfristig in die mediale Defensive brachte. Ob der Magnat aus Mailand, der die Meinungsumfragen anführt, damit bei der Wahl wirklich punkten kann, bleibt offen. Weil die Mehrzahl der Italiener der Fall nicht wirklich berührt. Als gute, in ihrem kulturellen Selbstverständnis genuine Europäer ist ihnen wirtschaftlicher Protektionismus oder gar Nationalismus gegenüber einem französischen Geldgeber – der nicht ihre Weinberge oder Ferrari kauft – durchaus fremd.

Apropos Ferrari: Das ist neben der Squadra Azzurra tatsächlich ein zweites, wirklich nationales Symbol. Die roten Renner entfachen bei jedem WM-Lauf eine landesweite Begeisterung. Und die Weltmeistertitel im Fußball und für die Scuderia Ferrari heben das von der Politik nur zu selten gestützte Selbstwertgefühl. Vor dieser nächsten Wahl wirkt die politische Selbstwahrnehmung der Bürger sogar völlig zerrüttet. Resignation regiert. Demoralisierung.

Das freilich liegt nicht allein an der Politik: an der Klasse der meist älteren Männer auf den römischen Hügeln. Es liegt auch an den Bürgern, die oft keine sind. Weil der Sinn fürs Soziale sich noch immer fast ausschließlich auf die engste eigene Gruppe bezieht. Auf die Familie, den Sportverein, die Firma, die Partei, allenfalls noch auf die Stadt. Oder die eigene Region. Der Staat, gar der Zentralstaat, gilt als ungeliebter Versager, den man zum Beispiel nicht noch mit Steuerzahlungen unterstützen möchte.

„Rom“ ist so für alle Nichtrömer weit weg. Für die Römer selbst ist Sizilien schon „Afrika“. In Oberitalien sieht man zunehmend zweisprachige Ortsschilder, unter dem Italienischen steht der Name nun im regionalen, oftmals ganz eigensprachlichen Dialekt. Trotzdem war die Lega Nord, eine Separatistenpartei, die Venetien und die Lombardei als ihren Wunschstaat „Padania“ reklamiert, in Berlusconis voriger Regierung (bis 2006) fünf Jahre lang mit an der zentralen Macht. Da kennen Politiker, wenn es denn um Einfluss, Geld und Posten geht, in der Tradition des „transformismo“ – einer italienischen Spielart der wendehälsischen Flexibilität – wenig Hemmungen.

Schon gar nicht in Rom. Der Name der Hauptstadt ist, was die ständig wechselnden, seit 1945 inzwischen rund 60 Regierungen angeht, für viele Italiener auch ein politisches Schimpfwort. Nicht mit der aggressiven Bösartigkeit vorgetragen, mit der einst in der Weimarer Republik die Radikalen alle demokratischen Institutionen bedachten. Aber die „System“-Verdrossenheit ist in Italien dieser Tage, ob in Umfragen oder im täglichen Hörensagen auf den Märkten, im Gespräch mit Handwerkern oder mit Intellektuellen gleichermaßen allgegenwärtig. Sie entspringt einem Gefühl der Ohnmacht gegenüber einer politischen Klasse, die immer die gleichen Gesichter zeigt. Selbst wenn sie neue Parteien gründen oder die Namen ihrer Parteien wechseln, wie zuletzt auch wieder Silvio Berlusconi auf der rechten Seite und Walter Veltroni, Roms Bürgermeister, als Kandidat der linken Mitte.

Italien ist häufige Neuwahlen gewöhnt, mehr als jede andere westliche Demokratie. Aber diesmal ist vieles anders. Das Land hat nach dem enormen Aufschwung in den 70er und 80er Jahren Anfang dieses Jahrhunderts noch einmal einen kurzen wirtschaftlichen Boom erlebt. Nicht wegen Berlusconi. Der hatte sich nach seiner ersten, schnell gescheiterten Amtszeit 1994/95 in den fünf Jahren als Regierungschef von 2001 bis 2006 weniger um die Volkswirtschaft gekümmert als um die juristische und ökonomische Absicherung der eigenen Position. Berlusconi erntete stattdessen die Früchte einer finanzpolitischen Stabilisierung Italiens unter der ersten Regierung Prodis und dann bis 2001 des Wirtschaftsexperten Giuliano Amato.

Diese Konsolidierung eines von überwucherndem öffentlichen Dienst, ineffektiven Bürokratien, Korruption und mafiösen Verstrickungen heimgesuchten Landes geschah in den Neunzigerjahren: nach Aufdeckung der „Tangentopoli“-Affäre, jener Schmiergeld-Insolvenz der Regierung Craxi und des Endes der strukturellen Vorherrschaft der alten römischen Christdemokraten. Ganz praktisch aber hatte die Eindämmung der Staatsverschuldung mit dem Druck der Maastricht-Kriterien zu tun und mit Italiens Ambition, als Land der „Römischen Verträge“ auch bei der Einführung des Euros dabei zu sein.

Was Prodis und später Amatos Mitte-Links-Bündnis unter dem Signum des Olivenbaums zwischen 1996 und 2001 zur Erneuerung des italienischen politischen Systems so wenig geschafft haben wie Prodis zweite Regierung 2006/07, war: eine grundlegende Erneuerung der völlig verkrusteten, bürokratisch und korrumptiv gelähmten italienischen Sozialsysteme oder der schleppenden Justiz.

Zudem fehlt ein neues Mediengesetz, das Berlusconis Kombination von privater Meinungsmacht und politischer Amtsmacht (künftig) verhindern könnte. Und es fehlt die Reform des Wahlrechts mit Sperrklauseln wie eine Fünfprozenthürde gegen die kleinparteiliche Zerplitterung von Regierung und Parlament. Prodis letzte, im Januar an der insgesamt 32. Vertrauensfrage in zwei Jahren gescheiterte Regierung fußte auf einer Koalition von neun oft genug selbstsüchtigen Parteien – und hatte, das zum Bürokratieabbbau, insgesamt 100 Minister, Vizeminister und Staatssekretäre. So beginnt der allen Gemeinsinn untergrabende Klientelismus: ganz oben.

Nicht der Kapitalismus, nicht der Kommunismus, nicht der Klerikalismus bedrohen Italiens Seele und damit auch jene lebensfreundliche Grazie und kultivierte, alltägliche Freundlichkeit, die das Land neben Klima, Küche und überreichen Kunstschätzen in der jüngsten Statistik wieder (vor Spanien) zum beliebtesten Reiseziel der Deutschen gemacht hat.

Der Dichter und Filmemacher Pier Paolo Pasolini hat Italiens Krebsübel schon vor 30 Jahren den „consumismo“ genannt. Diese Konsumismus-Schelte klang damals noch nach einem kulturpessimistischen Kassandraruf. Aber der Berliner Neuhistoriker Christian Jansen belegt diese These auch ohne Bezug auf Pasolini in seiner kürzlich erschienene Studie „Italien seit 1945“, der wohl besten Einführung in die jüngere italienische Geschichte (Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen). Es ist der Mentalitätswandel einer Gesellschaft, die nach Krieg und Mussolini-Ära von einem, bis auf wenige norditalienische Industriezentren, überwiegend traditionellen Agrarland geprägt war. Ein Sprung in die industrielle Hypermoderne.

Was man in toskanischen Idyllen oder auf den altstädtischen Piazzen nur zu gerne vergisst: Italien gehörte bereits 1975 zu den „G“-Staaten, zu den zunächst sechs führenden Industriestaaten des Westens (inzwischen: G 8, plus Kanada und auch Russland). Und zu Italiens Umbruch gehört auch der Aufstieg des Fernsehens. Es waren nicht die Literatur und die öffentlichen Schulen, es war das Fernsehen, das in dem Land der Regionalkulturen und vieler unterschiedlicher Idiome zwischen dem Sizilianischen, Neapolitanischen oder Venezianischen eine gemeinsame Sprache durchgesetzt hat.

Viele Italiener sagen, dass es kein fernsehgläubigeres Publikum in Europa gebe als das zwischen Bozen und Palermo. Jedenfalls steigert der Einfluss des Fernsehens die Macht des Medienmanns Berlusconi in kaum zu überbietender Weise. Für die große Masse spielen da die seriösen überregionalen Zeitungen „la Repubblica“ (aus Rom) und „Corriere della sera“ (aus Mailand) kaum mehr eine Rolle.

Es ist eine der Erklärungen, warum ein zweimal gescheiterter politischer Buffo, dem unzählige Prozesse, Skandale und zum Teil gerichtsnotorische Mafiaverbindungen anhängen, nun ein drittes Mal die Chance hat, Ministerpräsident zu werden. In einem zivilisierten Land – mit schwacher Zivilgesellschaft. Und mit einer auch in den Programmen der öffentlichen TV-Anstalt RAI fast völlig entpolitisierten Fernsehunterhaltung, deren Kitsch unter anderem dazu führt, dass heute eine Mehrheit der italienischen Mädchen als Berufswunsch „Velina“ angibt.

Veline heißen jene wenig bekleideten, meist blonden, vollbusigen „Assistentinnen“, die in Italiens TV-Sendungen, von der Talkshow bis zum Sport, fast den ganzen Tag dem ganzen Land mit Botoxlippen entgegenlächeln. Stumm, entmündigt, für viele offenbar ein Traum von Frau. Für andere ein Alptraum. Er ist das Sinnbild der exhibitionistisch oberflächlichen, der „konsumistischen“ Berlusconi-Kultur.

Bisher schwangen, wenn von „italienischer Krise“ die Rede war, noch Spott und Selbstironie mit. Jetzt ist es anders. Seit zwei, drei Jahren stagniert auch der wirtschaftlich starke Norden. Preissteigerungen und Inflation sind ein Dauerthema. Nicht nur Neapel brennt und stinkt. Mafiose Strukturen, Umweltzerstörung und Selbstbereicherung grassieren auch in Mittel- und Norditalien. Die kritischen Intellektuellen, von Umberto Eco bis Claudio Magris, sind angesichts von Berlusconis drohender Wiederkehr in Schockstarre verfallen. Und auch der „cavaliere“, wie sich Silvio B. selber nennen lässt, verbreitet keine illusionäre Zuversicht mehr. Er spricht plötzlich von „harten Zeiten“, die auf Italien zukommen. Schuld an einem verbreiteten Gefühl der Misere sind für ihn nun nicht mehr nur „die Linken“. Sondern sein bisheriges Vorbild Amerika. Dessen Immobilienkrise.

Also wieder die äußere Bedrohung, die das Volk um seinen Verführer scharen soll. Doch viele schauen gerade nach Amerika, wo im Wahlkampf vom großen „Wandel“ die Rede ist. Aber auch Veltroni ist kein Obama und keine politische Frau in Sicht. Italien, das es eigentlich nicht gibt, staunt über Hillary und bewundert „la Merkel“. Man würde die Deutschen am liebsten schon lieben.

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