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Meinung: Jeder war mal Kind

Deshalb fällt der Umgang mit jungen Kriminellen so schwer

Von Gerhard Mauz

RECHTSWEGE

Im Pazifikstaat Tonga werden, wie die Agentur AFP meldet, straffällig gewordene Kinder von den Behörden auf ein einsames Atoll zum Fischefangen abgeschoben. Derzeit sollen etwa 50 Kinder zwischen 14 und 16 auf der Insel Ata, rund eine Bootsstunde von der Hauptinsel Tongapatu entfernt, untergebracht sein. Sie müssen sich von selbst gefangenem Fisch ernähren. Ein einziger Wächter bewacht die Jugendlichen. Unterricht gibt es nicht. Doch einmal im Monat dürfen die jungen Häftlinge zum Familien- und Kirchenbesuch nach Hause.

Hätten wir doch auch irgendwo, wenn schon kein Atoll, so doch wenigstens ein Inselchen für eine solche Lösung, wird mancher meinen.

Wir tun uns schwer mit den Kindern und Jugendlichen, denen es nicht gelingen will, problemlos in die volle Verantwortlichkeit des so genannten Erwachsenen hineinzuwachsen. Nach wie vor krankt unser Umgang mit den Kindern und Jugendlichen daran, dass bewusst-unbewusst davon ausgegangen wird, dass jeder weiß, wie es ist, wenn man ein Kind oder Jugendlicher ist, weil ja jeder selbst einmal ein Kind und ein Jugendlicher war. Die Kluft zwischen dem, was man selbst als Kind und Jugendlicher erlebt hat und eigenen Kindern, wird nach wie vor nicht bewältigt. Auf die völlig neue Situation, nun selber Mutter oder Vater zu sein, wird niemand vorbereitet.

Lange, zu lange ist der Staat opferfeindlich gewesen. Er setzte sich selbst an die Stelle des Opfers. Schließlich waren es seine Regeln und Gesetze, die verletzt wurden. Das tatsächliche Tatopfer wurde verdrängt. Das ist nun endlich vorbei. Seine höchst reale Betroffenheit wurde ignoriert. Der muss man sich nun stellen.

Das ist nicht einfach. In Großbritannien wurde ein Mann, der im Verdacht steht, am Tod zweier kleiner Mädchen beteiligt gewesen zu sein, zunächst in die Psychiatrie eingeliefert. Er soll bizarre Reden von sich gegeben haben. Das löste Empörung aus. Das wurde als dramatische Opferfeindlichkeit empfunden. Es ist wieder daran zu erinnern, dass aus dem opferfeindlichen Strafrecht nicht einfach das Gegenteil werden darf – ein Strafrecht, das sich im Hass auf den Täter erschöpft. Das darauf verzichtet, aufzuklären, was in dem Menschen vorgegangen ist von seiner Kindheit an, der nun Unsägliches begangen hat.

Das Mitgefühl mit den Angehörigen oder den Opfern, wenn sie denn überleben, darf nicht dazu führen, dass wir vergessen, dass gerade das Entsetzen über eine Tat uns dazu verpflichtet, alles zu tun, um herauszuarbeiten, wie es zu der Tat kam. Das schulden wir den Opfern und ihren Angehörigen. Da geht es darum, herauszufinden, auf welchem Weg ein Mensch dazu kam, unmenschlich zu handeln.

Die Besonnenheit, die dazu gehört, sollte wenigstens den Nichtbetroffenen gelingen. Der Einblick in eine Biographie, die in eine katastrophale Tat mündet, kann Einsichten erbringen, die dazu helfen, derartigen Entwicklungen rechtzeitig zu begegnen. Wir schulden das vor allem den Opfern. Das ist kein Trost für die Opfer und die Angehörigen – aber vielleicht lassen sich Erkenntnisse gewinnen, die uns befähigen, Anzeichen einer Störung so früh zu erkennen, dass noch etwas geschehen kann. Das Mitgefühl und das Entsetzen verpflichten uns dazu. Es gehört zu den Lasten, die auf unserer menschlichen Existenz liegen, dass wir, wann immer wir etwas lernen und begreifen, aus dem Unglück lernen, daraus, dass wir Bedrohungen zu spät realisiert haben.

Es ist schmerzlich, dafür um Vergebung bitten zu müssen, dass wir nur so mühsam lernen.

Gerhard Mauz ist Autor des „Spiegel“.

Foto: Dirk Reinartz

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