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In guter Tradition: Assange versucht sich an einer Balkonrede.

© Reuters

Julian Assange: Bei Liebknecht und Genscher geklaut

Julian Assange hat eine Balkonrede gehalten. Das hat Tradition - und tatsächlich schien manches von großen Vorbildern zusammengegoogelt.

Von Anna Sauerbrey

Es war eine Rede voller Pathos, eine große verbale Geste. Der Mann im hellblauen Hemd, das Jackett wie zum Faustkampf abgestreift, sprach vom Dunkel und vom Licht und von der Freiheit. Er appellierte an das Gute in seinen Gegnern und kündigte an, seinen Kampf fortzusetzen. Julian Assange hat eine Balkonrede gehalten, eine Balkonrede erster Güte.

Wie lange der Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks in seinem Asyl in der Londoner Botschaft von Ecuador an dem Text gefeilt hat, ist nicht überliefert. Gewisse Parallelen zu anderen Balkonreden aber legen die Vermutung nahe, dass Google im Spiel war. Ein vom Schwarm der Internetnutzer initiiertes Assange-Plag (nach dem Vorbild eines Gutten-Plag) dürfte erhellend sein. Hier nur ein Einstieg: Assange sprach vom „Licht der Weltöffentlichkeit“, das seinen Fall erhelle. Das Original findet sich bei Hans- Dietrich Genscher, in seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus am 10. November 1989, nicht auf dem Balkon, aber unter dem Balkon: „In diesen Stunden blickt die Welt auf diese Stadt.“ Assange sagte weiter, nach der Nachtwache seiner Anhänger vor der Botschaft sei dies der Morgen, an dem die Sonne über einer neuen Welt aufgegangen sei. Das könnte er von Karl Liebknecht haben, der auf dem Balkon des Stadtschlosses von Berlin am 9. November 1918 die Republik ausrief: „Das Alte ist nicht mehr.“ Assange sprach von der „Hingabe“ und Loyalität seiner Unterstützer und forderte Freiheit für den Wikileaks-Informanten Bradley Manning. Das erinnert an Wilhelm den II., der 1914, ebenfalls vom Balkon des Stadtschlosses, Gott um „Hilfe für unser braves Heer“ bat. Schon die Szenerie – der über die Massen erhobene Redner, der mit seinen Worten gleichsam Weisheit oder zumindest Entschlossenheit auf seine Zuhörer herabrieseln lässt –, suggeriert das große politisches Drama.

Video: Diplomatischer Streit um Assange

Nur: Für Assange ist weder eine Mauer gefallen noch eine Revolution geschehen noch ein Krieg erklärt. Und er weiß das. Die lasch in die Luft gehauchten Betonungsgesten wirken wie die Ausschmückung einer Schultheateraufführung. Es ist eine drittklassige politische Performance.

Nicht, dass die Welt zurzeit keine politischen Dramen zu bieten hätte. Die Euro-Krise gäbe Anlass zu Pathos von oben. Dass trotz der offensichtlichen Mängel der Inszenierung hunderte Anhänger Assange zujubelten, ist vielleicht der Sehnsucht nach einer Balkonrede geschuldet. Wann werden Berufenere wieder auf den Balkon steigen? Wenn das Stadtschloss wieder steht? Anna Sauerbrey

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