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Meinung: Kein Jagdverein gegen Ostdeutsche

Die Anfragen bei der Birthler-Behörde sinken. Ihr zeithistorischer Wert steigt dennoch

Von Matthias Schlegel

Als eine aufgebrachte Menge im Januar 1990 an den Toren des Ministeriums für Staatssicherheit in der Berliner Normannenstraße rüttelte und „Stasi raus“ skandierte, wusste keiner der Demonstranten, was sich dahinter tatsächlich verbarg. Als das ganze Ausmaß der Überwachung, Bespitzelung und Repression später buchstäblich aktenkundig wurde, erschütterte das nicht nur Betroffene und Ahnungslose. Es ließ auch die Politik erbeben. Denn sowohl einige ernst zu nehmende Bürgerrechtler aus dem Osten als auch honorige Politprofis aus dem Westen sahen in den 176 Aktenkilometern ein Pulverfass für den inneren Frieden in der untergehenden DDR.

16 Jahre später wissen wir, dass es weder Hexenjagden noch Racheakte gab – sofern man sich weigert, die Entlassung manch vergangenheitsvergessenen früheren Stasi- Spitzels aus einem öffentlichen Amt als solche zu bezeichnen. 16 Jahre später wissen wir, dass tausende Verfolgte, Gepeinigte und Betrogene durch die Rekonstruktion ihres Schattendaseins mit Hilfe der Akten ihre Würde wiederfanden – auch wenn ihnen zwar Rehabilitation, aber kein Ersatz für verlorene Chancen gegeben werden kann.

16 Jahre später wissen wir aber auch, dass der Zugang zu diesen Akten, eben weil er Schmerzliches zutage gefördert hat, immer auch polarisiert hat. Dass er stets die Wunde der zweiten deutschen Diktatur im Bewusstsein der Menschen schwären ließ. Viele beklagten eine Verengung der historischen Rückschau auf die Stasi-Problematik. Sie sahen darin eine Diskreditierung ihres „ anständig“ gelebten Lebens. Solche Reaktionen aber muss eine offene Vergangenheitsaufarbeitung aushalten, will sie sich nicht durch Verdrängen korrumpieren lassen.

Gleichwohl: Wenn heute Marianne Birthler in ihre zweite Amtszeit als Beauftragte für die Stasi- Unterlagen gewählt wird, leitet sie fortan eine Behörde, die den Zenit ihrer Bedeutung als „Auskunftsinstanz“ überschritten hat. Das belegen schon die Zahlen: Wenn in diesem Jahr die Regelüberprüfungen im öffentlichen Dienst auslaufen, schwindet ein wichtiges Arbeitsfeld. Auch die Anträge auf private Akteneinsicht werden zurückgehen. Das wird dazu führen, dass die Behörde, in der gegenwärtig noch rund 2200 Menschen beschäftigt sind, personell schrumpft und ihrer Abwicklung entgegensieht.

Das heißt aber nicht, dass die historische Bedeutung dessen, was sie verwaltet, sinkt. Die Aktenbestände – die im Übrigen noch immer nicht komplett aufgearbeitet sind – sind für die zeithistorische Forschung ein Schatz, der mit den Jahren noch an Wert zunimmt – im Verbund mit den übrigen Zeugnissen der DDR-Vergangenheit. Ihn in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren in das Bundesarchiv zu überführen, ist nicht nur eine enorme organisatorische Aufgabe. Es bedeutet auch, Regeln dafür aufzustellen, um diese Hinterlassenschaft weiter optimal nutzen zu können, von der Wissenschaft wie von Betroffenen. Dafür ist nun die Politik gefordert. Auch wenn die jüngsten Bundestagsabgeordneten zur Wende noch Kinder waren – auch sie werden sich damit befassen müssen.

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