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Meinung: Kinderwunsch und Wirklichkeit

POSITIONEN: WEGE AUS DER DEUTSCHEN KRISE (3) Deutschland rutscht ab im internationalen Vergleich. Die Pisa-Studie hat die deutsche Bildungsmisere offenbart, auch beim Wirtschaftswachstum liegt die Bundesrepublik auf dem letzten Platz in Europa.

POSITIONEN: WEGE AUS DER DEUTSCHEN KRISE (3)

Deutschland rutscht ab im internationalen Vergleich. Die Pisa-Studie hat die deutsche Bildungsmisere offenbart, auch beim Wirtschaftswachstum liegt die Bundesrepublik auf dem letzten Platz in Europa. In einer gemeinsamen Serie mit DeutschlandRadio Berlin suchen prominente Autoren „Wege aus der deutschen Krise“. Zu hören sind die Beiträge sonntags um 12 Uhr 10 im DeutschlandRadio Berlin (UKW 89,6).

Es stimmt, die Zahl der Single-Haushalte insbesondere in den Großstädten hat dramatisch zugenommen, dies hat aber viele Gründe unter anderem, weil dort das Wohnen für Familien zu teuer ist und Lebensstile sich verändert haben. Es stimmt, die Zahl der Einelternfamilien hat deutlich zugenommen, auf heute etwa 19 Prozent. Es stimmt die Zahl der Scheidungen nimmt ebenfalls kontinuierlich zu, eine Folge davon, dass Ehen nicht mehr Zweckgemeinschaften sind, sondern auf Liebe basieren. In Folge dessen gibt es mehr Stief- und Patchworkfamilien: Meine Kinder, deine Kinder, unsere Kinder.

Ist also die Familie, wie sie für meine Generation - ich bin jetzt 58 - der nicht immer gelebte Normalfall war, die Familie der Generation meiner Eltern ein Auslaufmodell? Nein. Es stimmt eben auch, dass mehr als drei Viertel aller Kinder in einer ganz herkömmlichen Familie aufwachsen, leiblicher Vater, leibliche Mutter und Geschwister. Auch für Kinder heute ist Familie wichtig, Ihre Eltern sind die wichtigsten Bezugspersonen. Familie ist nicht nur kein Auslaufmodell, sondern sie genießt heute mehr Wertschätzung als je zuvor. Über 90 Prozent halten Familie für wichtig bis sehr wichtig. Junge Leute bis zum 25. Lebensjahr wollen zu 80 Prozent einmal selbst Familie haben, wollen Kinder mit der Betonung auf der Mehrzahl haben. Dieser Wunsch steht gleichberechtigt neben dem Wunsch nach einem erfüllten Berufsleben.

Keine andere Institution hat in den letzten zwanzig Jahren so an Zustimmung gewonnen. Dies ist auch nicht verwunderlich, denn in Zeiten ungeheuerer Veränderung unter den Stichpunkten Globalisierung und Individualisierung und häufig auch Entsolidarisierung wächst das Bedürfnis nach Stabilität, Verlässlichkeit und Geborgenheit, nach Werten, die mit Familie verbunden werden.

Familienpolitik und damit die Familien haben aber auch deshalb Konjunktur, weil die Wirtschaft zu Recht beklagt, dass ihr gut ausgebildete Fachkräfte trotz leider noch zu hoher Arbeitslosigkeit fehlen. Sie wären da: Die am besten ausgebildete Frauengeneration, die es jemals gab möchte erwerbstätig sein und kann es soweit Kinder vorhanden sind in West-Deutschland nur sehr eingeschränkt sein. Die Konsequenz daraus heißt für viele gut ausgebildete Frauen Kinderwünsche immer weiter zu verschieben bis sie nicht mehr realisierbar sind: Derzeit sind 41 Prozent der Akademikerinnen kinderlos, 30 Prozent aller Frauen des Geburtsjahrgangs 1965. In Skandinavien, in Frankreich liegt dieser Prozentsatz unter 10 Prozent.

Und last but not least ist die sich seit drei Jahrzehnten anbahnende Bevölkerungsstruktur ein wichtiger Grund heute wenigstens für die fernere Zukunft umzusteuern. Wir, die heute Mittelalten werden nicht von Aktiendepots und Sparstrümpfen gepflegt werden können, sondern dazu brauchen wir real existierende Menschen. Ohne Kinder heute werden wir später ganz schön alt aussehen.

So ist Familienpolitik zu dem zentralen gesellschaftspolitischen und zu einem wichtigen ökonomischen und bildungspolitischen Thema geworden. Was muss sich ändern? Wir müssen bei den Betreuungseinrichtungen in Westdeutschland endlich an den europäischen Standard anschließen. Wir brauchen mehr Krippen, Ganztags-Kindergärten und -Schulen – alles im übrigen Europa eine Selbstverständlichkeit. Wir brauchen eine familienfreundliche Arbeitswelt, denn Kinder brauchen Zeit mit ihren Eltern und Eltern wollen Zeit mit ihren Kindern. Also muss und wird Familienpolitik Thema im Bündnis für Arbeit werden mit den Zielen mehr Teilzeitbeschäftigung, Motivation von Männern ihre Vaterrolle auch zu praktizieren, Anerkennung von Familienkompetenzen im Beruf, Karrieremöglichkeiten jenseits des 40. Lebensjahres und keine negative Bewertung von Teilzeitbeschäftigung und Inanspruchnahme von Elternzeit beim beruflichen Erfolg, weder bei Müttern noch bei Vätern.

Wir brauchen einen Mentalitätswechsel zu einer kinder- und familienfreundlichen Gesellschaft. Auch die Politik muss dazu beitragen. Ich plädiere dafür, dass alle Gesetze und Maßnahmen auf ihre Kinder- und Familienfreundlichkeit hin überprüft werden. Warum wird etwa Kinderlärm genauso bewertet wie Straßenlärm? Warum ist es einfacher mit einer mannshohen Dogge eine Wohnung zu finden als mit drei kleinen Kindern? Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass das Kindergeld weiter erhöht werden muss, dass Betreuungskosten besser steuerlich absetzbar sein müssen, vor allem um der schwierigen Situation allein Erziehender Rechnung zu tragen. In Deutschland ist aber seit Jahrzehnten immer nur über Geld geredet worden, da schauen wir mit dem höchsten Kindergeld und den meisten Steuererleichterungen im internationalen Vergleich gar nicht schlecht aus. Die übrigen Rahmenbedingungen sind darüber vernachlässigt worden.

Manche werden jetzt kritisieren, ich wolle die Frauen in die Erwerbstätigkeit drängen und für uns gäbe es nur ein Lebensmodell. Nein, ich will nicht, ich will weder die Biografie der Mütter meiner Generation in Frage stellen, noch irgendeiner heutigen oder künftigen Familie vorschreiben wie sie leben soll. Wir wissen aber aus vielen Untersuchungen, dass gerade mal 20 Prozent der Frauen sich vorstellen können, über einen langen Zeitraum ausschließlich Mutter und Hausfrau zu sein, 80 Prozent wollen beides, ihren Beruf ausüben und Kinder haben. Letztere dürfen nicht als Rabenmütter und erstere nicht als Nur-Hausfrauen diskriminiert werden, denn die Zeit der erbitterten ideologischen Grabenkämpfe ist in Westdeutschland hoffentlich vorbei – hier können wir von den ostdeutschen Frauen und Familien lernen.

Die Parole der Zukunft lautet: Familie und Beruf für Mütter und immer häufiger mehr Familie und weniger Beruf auch für Väter, zufriedene Familien und mehr Kinder zum Nutzen der ganzen Gesellschaft.

Die Autorin ist stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende. Foto: ZB

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