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Meinung: Kleines Restrisiko mit großer Wirkung

Die Gefahr eines Pockenanschlags ist gering – kein Grund zur Hysterie / Von Alexander S. Kekulé

WAS WISSEN SCHAFFT

Angst ist ein unheimliches Phänomen. Einmal befällt sie uns ohne Grund, mal versagt sie trotz höchster Gefahr: Jedes Kind möchte lieber einen Bären streicheln als eine Vogelspinne (von deren rund 800 Arten keine lebensgefährlich ist). Seit dieser Woche muss unsere innere Alarmanlage mit einem neuen Vexierbild klarkommen: Die „abstrakt hohe Sicherheitsgefährdung“.

Eine solche, so verlautbarte die Bundesregierung, stellt ein möglicher Anschlag mit Pockenviren dar. Der Leiter des RobertKoch-Instituts versuchte in der „Tagesschau“ auf seine Weise, die Ängste zu beruhigen: „Es bleibt ein ganz, ganz kleines Restrisiko“, erklärte er. Ein Restrisiko ist jedoch definitionsgemäß das, was trotz aller Schutzvorkehrungen übrig bleibt – ein kleines Restrisiko kann deshalb ein großes Problem sein. Das gilt besonders dann, wenn der Irak tatsächlich Pockenviren besitzt, wie deutsche Oppositionspolitiker behaupten – unter Berufung auf angebliche Geheimdienstinformationen. Wer dabei nicht ein mulmiges Gefühl bekommt, muss gute Nerven haben.

Die Pockenhysterie, die sich gegenwärtig epidemieartig auf dem Globus ausbreitet, ist jedoch durch keinerlei Fakten gerechtfertigt. Dass mehrere Staaten höchstwahrscheinlich noch Pockenvieren-Vorräte besitzen, ist in Fachkreisen seit Jahren bekannt. Zu den Verdächtigten gehören neben diversen „Schurkenstaaten“ auch seriöse Länder wie Frankreich. Da die Impfprogramme in den 70er Jahren beendet wurden, nimmt die Gefährdung durch einen potenziellen Pockenanschlag (oder einen Laborunfall) kontinuierlich zu. Die von Wissenschaftlern deshalb schon lange erhobene Forderung, genügend Impfstoff und Alarmpläne für Notfälle vorzuhalten, wird derzeit – endlich – erfüllt. Objektiv gesehen ist die Gefahr durch Pocken in den letzten zwei Jahren also nicht größer, sondern deutlich kleiner geworden.

Davon abgesehen gibt es für die Gerüchte über Pockenviren im Irak keinerlei Beweise (sonst hätte Colin Powell sie auch zweifellos dem UN-Sicherheitsrat vorgeführt). Die UN-Inspektoren hatten in den 90er Jahren wissenschaftliche Publikationen zum Thema Pocken bei irakischen Wissenschaftlern gefunden – mehr nicht. Auch die Spekulationen, Saddams Wissenschaftler könnten harmlose Kamelpocken „scharf“ gemacht haben, sind aus der Luft gegriffen – zu dieser gentechnischen Meisterleistung wäre der Wüstenstaat definitiv nicht in der Lage. An dieser Einschätzung ändert auch das sieben Monate alte Pocken-Papier aus dem Gesundheitsministerium nichts, das am Wochenende für Schlagzeilen und Wortgefechte zwischen Regierung und Opposition sorgte.

Die Entscheidung, den alten Impfstoff nur für den äußersten Notfall einzulagern, ist trotz all der Aufregung richtig. Eine vorbeugende Massenimpfung wäre derzeit auch deshalb nicht gerechtfertigt, weil sie erhebliche Nebenwirkungen hätte – auch psychologische. In den USA hat die gerade angelaufene Impfkampagne die Bioterror-Panik erst richtig angeheizt, die Nerven der Nation liegen blank: In einer Chicagoer Diskothek starben am Montagmorgen 21 Menschen bei einer Massenpanik. Sicherheitskräfte hatten versucht, einen Streit mit Tränenspray zu beenden – dann schrie irgendjemand: „Giftgas!“. Manchmal ist die Angst gefährlicher als ihr Auslöser.

Der Autor ist Direktor des Instituts für medizinische Mikrobiologie an der Universität Halle-Wittenberg. Foto: Jacqueline Peyer

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