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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Kolumne "Meine Heimat": Die Schnecke auf dem Rücken der Schildkröte

Unsere Autorin hegt eine Leidenschaft für den politischen Wettlauf. Nur, dass auf der Berliner Strecke zu viele in farblosen Trikots herumrennen. Und auch mit den Pulsuhren der Läufer stimmt irgendetwas nicht.

Ich habe eine große Leidenschaft, den Wettlauf der politischen Parteien. Meine Laufklamotten stammen aus einer Zeit, in der es noch klare Gewinner und Verlierer gab. Schnitt, Material und Style sind so in die Jahre gekommen, dass man eine Farbe kaum noch zu erkennen vermag. Ich scheine irgendwie den Anschluss verpasst zu haben. Meine Zeiten sind katastrophal.

Das macht aber nichts. Ein Freund, der von Beruf Berater ist, hat mir einen Minicomputer für Profi-Jogger geschenkt. Der rechnet mir meine Zeiten schön. Heute zum Beispiel bin ich zwar langsamer gelaufen als gestern, jedoch um die Hälfte schneller als meine schlechteste Zeit. Außerdem habe ich immer bessere Werte, wenn es um Strecke, Herzfrequenz und Kalorienverbrauch geht. Ich bin sozusagen die Schnecke, der es auf dem Rücken der Schildkröte schwindelig wird.

Auf meiner Strecke im politischen Berlin versucht sich auch ein schwarz gekleideter Anzugträger. Mal redet er von Laufzeitverlängerung, dann vom Gegenteil. Wenn er nicht vor mir ankommt, läuft er woanders in Berlin. Laufkundschaft nennt man das, mal hier, mal dort.

Es läuft auch eine Frau mit, wir sind uns eigentlich ganz grün. Aber sie bevorzugt die flachen Strecken, da, wo nicht so viele Hindernisse im Weg sind.

Ein anderer Läufer lief früher immer einfarbig quietschegelb. Nun trägt er mal schwarze Schuhe, mal ein grünes Leibchen, mal ein rotes Stirnband. Er will unbedingt über die Fünfprozenthürde, dafür ist ihm alles recht. Ich habe gesehen, wie er geschummelt hat. Er hat zwei Stationen die U-Bahn genommen.

Seit einigen Wochen ist ein ganz neuer Läufer dabei. Er trägt ein Netzhemd, wegen der Transparenz, sagt er. Ständig tippt er beim Laufen in sein Smartphone, so dass er Gefahr läuft, sich zu verlaufen. Mal nach rechts, mal nach links, mal ins Nirgendwo.

Letzten Sonntag gab es eine merkwürdige Siegerehrung der Laufgemeinschaft Schleswig-Holstein. Einer, ein schwarzer Läufer, hatte die Nase ganz knapp vorn. Er wollte in der Mannschaftswertung den ersten Preis machen, das misslang aber, weil sein Partner es zwar ins Ziel schaffte, aber so viel von ihm auf der Strecke blieb, dass nur sein Schatten ankam. Dabei sein ist alles, dachte er und feierte seine pure Präsenz als Triumph. Dem anderen, dem Roten, ging auf der Zielgeraden die Luft aus. In der Mannschaftswertung könnte es aber zum Sieg reichen. Der Zieleinlauf war direkt an einer neuen Ampelanlage. Ein weiteres, orangefarbenes Team kam auch ins Ziel, aber mehr für sich, ohne Interesse an Pokalen. Das Publikum blieb der Veranstaltung fern. Es reicht wohl nicht mehr, wenn die Mannschaften nur noch im Kreis laufen.

Diesen Sonntag werde ich wieder laufen. Ich vertraue darauf, dass die anderen schlechter sind als ich. Der müdeste Sieg ist noch ein Triumph, wenn man unter den Miserablen nur der Schlechteste ist. Oder wie mein Vater sagen würde „Kimse yogurdum eksi demez“ – niemand würde zugeben, dass sein Joghurt sauer ist.

Hatice Akyün ist Autorin und freie Journalistin. Sie ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause.

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