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Hatice Akyün ist Autorin und freie Journalistin. Sie ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause.

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Kolumne Meine Heimat: Unterwegs mit der Generation Facebook in Berlin

Die Metropole Berlin kennenzulernen, ist wohl etwas, für das man ein Leben lang braucht. Unsere Autorin Hatice Akyün ist in der Hauptstadt zuhause und war unterwegs mit der Generation Facebook.

Der Zahn der Zeit nagt an mir. Das hat weniger damit zu tun, was ich tagtäglich im Spiegel sehe. Nein, ich merke es daran, dass meine Tochter in die Schule kommt. Dabei war sie gefühlt doch noch gestern in meinem Bauch. Einen echten Zeitschock erlebte ich diese Woche, als meine beiden Nichten zu Besuch kamen. Die sind jetzt in dem Alter, in dem ich als Mittelstück unserer Großfamilie zusehen musste, wie die Älteren das Haus verließen und ich deren Aufgaben übernahm. Ich lebe nun beinahe genauso lange in Berlin, wie ich in Duisburg gelebt habe. Und wie das so ist, wenn Besuch kommt und man etwas von seiner Metropole zeigen will, merkte ich, wie viel ich selbst noch nicht gesehen hatte. Mit Berlin fertig zu werden, ist wohl bis zu meinem Lebensende nicht mehr zu schaffen.

In meinen Bemühungen, der nachwachsenden Generation ein Stück Berlin als Geschichtsort, Hauptstadt und liebenswerte Ansammlung vieler Eigenarten näherzubringen, stellte ich fest, dass beide Nichten sich total ähnlich sind. Obwohl die eine in Izmir und die andere in Duisburg aufgewachsen ist. Sie stammen von einem globalisierten, virtuellen Kosmos der Generation Facebook ab, Projektionsflächen aus sozialen Netzwerken der iPads und iPhones. Der Bezug zur realen Lebenswirklichkeit findet nur noch zwangsweise statt, da man Nahrung nicht downloaden und sich zu Orten nicht beamen kann.

Ich erinnerte mich an meinen ersten Berlin-Besuch in meiner späten Jugend. Mit einem Ausflug nach Ost-Berlin, Palast der Republik, Fernsehturm am Alex, und wie wir den ganzen Tag kämpften, unseren Zwangsumtausch loszuwerden. Wir haben uns die Mauer angeschaut und den ziemlich heruntergekommenen Reichstag mit holzvertäfeltem Sitzungssaal. So etwas beeindruckt diese Jugend heute nicht mehr. Für das Neue und das Echte fehlt eine Brücke ins Bewusstsein. Sie haben nicht gelernt, ihre Umwelt in der Wertigkeit auch zu erkennen, um sie dann zu hinterfragen.

So mühte ich mich ab, wenigstens die rudimentären Eckpfeiler der Historie zu vermitteln. Reichstag, Brandenburger Tor, Holocaust-Mahnmal und Reste der Mauer. Das Ergebnis suboptimal zu nennen, beinhaltet Anflüge von Euphorie. Aber Madame Tussauds hat ihnen gefallen. Auch Brad Pitt. Dass auf der Museumsinsel der Pergamonaltar und die Nachbildung des Schatzes des Priamos zu sehen sind? Uninteressant. Dass Troja und Pergamon in der heutigen Türkei liegen, löste nur ein Achselzucken aus. Dass Herr Pitt im Kinofilm „Troja“ spielte, das wussten sie allerdings. Nur den Namen von dem Typen, den er spielte, nicht.

Durch den Besuch wurde mir klar, dass es sich lohnen würde, mehr zu erfahren. Meine Tochter werde ich durch alle Orte der Geschichte, der Kultur und der Kulturen schleifen. Berlin ist ein großes Reagenzglas, mit Kunstfehlern und Pannen, aber auch einem bahnbrechenden Fortschritt. Darüber werde ich in Zukunft an dieser Stelle mehr schreiben. Oder wie mein Vater sagen würde: „Bilmemek ayip degil, ögrenmemek ayip.“ Keine Schande, nicht zu wissen, eine Schande, nicht zu lernen.

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. Sie schreibt ab heute immer montags an dieser Stelle über ihre Heimat.

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