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Meinung: Aus Freiheit wächst Integration

Nach dem Fall Seyran Ates: Europa muss muslimische Frauen stärken / Von Ayaan Hirsi Ali

Eine meiner Heldinnen ist Samira Ahmed, eine 24-jährige Frau mit mädchenhafter Ausstrahlung, großen, braunen Rehaugen und dunklem, lockigem Haar und einem Lächeln, das selbst die schlechtgelauntesten Gesichter dazu verführt, zurückzulächeln. Neben ihrer guten Laune ist sie wissbegierig und hat einen starken Willen, sie selbst zu sein. Sie wurde in eine Familie hineingeboren, die Marokko in den frühen 80ern verließ und sich in den Niederlanden ansiedelte. Sie ist eines von zehn Kindern.

Im Sommer 2005 war ich bei ihrer Examensfeier in einem Berufsschulkolleg in Amsterdam. Samira erhielt ein Diplom für Pädagogik und bekam die Höchstnote für ihre Examensarbeit. Als ich zu der Feier kam, sah ich eine fröhliche Klasse, insgesamt 35 Studenten, die in Gruppen um Kaffeetische herumstanden. Familie und Freunde begleiteten die meisten von ihnen, brachten Geschenke und in Cellophan eingepackte Blumen. Stolze Väter und Mütter, erregte Geschwister, die ihre Brüder und Schwestern, Freunde und Freundinnen neckten und glücklich waren, ein erfolgreiches Familienmitglied begleiten zu können.

An Samiras Tisch war dagegen niemand. Kein Bruder, keine Schwester, kein Cousin, keine Nichte oder Neffe. Zwei Jahre zuvor hatte sich Samira von zu Hause wegschleichen müssen, weil sie in einem Studentenwohnheim leben wollte wie ihre Freunde Sara und Marloes. Zu Hause teilte sie ein Zimmer mit ihren Geschwistern und hatte überhaupt keine Privatsphäre. Jede Bewegung zu Hause wurde von ihrer Mutter und ihren Schwestern beobachtet, außerhalb des Hauses hielten ihre Brüder Wache. Alle wollten verhindern, dass Samira verwestlichen könnte.

Samira war zu Hause physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt. Ihre Familie fand immer einen Vorwand, sie auszufragen, ihre Sachen zu durchsuchen oder ihr zu verbieten, aus dem Haus zu gehen. Sie wurde regelmäßig geschlagen. Es gab Gerüchte in ihrer Umgebung, sie habe einen holländischen Freund. Die Schläge wurden härter. Samira hielt es nicht länger aus und ging. Bald darauf, im Sommer 2003, nahm sie Kontakt zu mir auf. Ich ging mit ihr zur Polizei, um Anzeige gegen ihre Brüder zu erstatten, die gedroht hatten, sie umzubringen. Ihnen zufolge war Samiras Tod der einzige Weg, die Schande wiedergutzumachen, die sie über ihre Familie gebracht hatte, als sie das Haus ihrer Eltern verließ.

Die Polizei sagte, sie könne nichts weiter tun als eine Anzeige aufzunehmen. Es sei nicht die Aufgabe der Polizei , in Familienangelegenheiten zu intervenieren. Seit sie ihre Familie verließ, lebt Samira im Verborgenen, Samira liest ihre Schulbücher, macht ihre Hausaufgaben und gibt ihre Hausarbeiten rechtzeitig ab. Sie nimmt Einladungen zu Studentenparties von Sara und Marloes an und versucht, das Leben zu genießen.

Manchmal jedoch hat sie einen traurigen Blick, der ihre Sorgen offenbart. Heute strahlt sie, sie hält ihr Diplom fest und erwidert die Küsse ihrer Freunde. Ihre Sorgen sind aber alles andere als vorüber. Sie hat kein Geld; sie muss eine Arbeit finden – mit ihrem marokkanischen Namen wird das alles andere als einfach. Sie lebt in der niemals endenden Angst, dass ihre Brüder sie finden und umbringen. Das ist kein Witz. Allein in zwei Polizeidistrikten der Niederlande (die Gegend um Den Haag und in Südholland) wurden zwischen Oktober 2004 und Mai 2005 elf muslimische Mädchen von ihren eigenen Familien ermordet – für „Vergehen“, die denen von Samira glichen.

Meiner Meinung nach gibt es drei unterschiedliche Kategorien von muslimischen Frauen in der niederländischen Gesellschaft. Ich nehme an, dass diese Unterscheidung auch auf andere EU-Länder mit großen muslimischen Bevölkerungen zutrifft. Da gibt es zunächst Mädchen wie Samira: mit starkem Willen und dazu bereit, ein Risiko einzugehen, um ihre eigene Zukunft nach einem von ihnen selbst gewählten Weg zu gestalten. Sie stehen vielen Hindernissen gegenüber, während sie versuchen, sich in die westlichen Gesellschaften zu assimilieren, manche werden vielleicht ihr Leben bei dem Versuch verlieren, ihre Träume zu verwirklichen.

Zweitens gibt es Frauen, die ein Doppelleben führen. Statt sich mit ihren Familien auseinanderzusetzen und mit ihnen über Traditionen zu streiten, wählen sie eine taktvollere Herangehensweise. Wenn sie bei ihrer Familie sind, setzen sie das Kopftuch auf, zu Hause gehorchen sie jedem Wink ihrer Eltern und der Männer allgemein. Außerhalb des Hauses führen sie jedoch das Leben einer normalen westlichen Frau: Sie haben einen Job, ziehen sich modisch an, haben einen Freund, trinken Alkohol, nehmen an Cocktail-Parties teil und schaffen es auch, für einige Zeit zu verreisen.

Die dritte Gruppe ist absolut verletzlich. Einige dieser Mädchen wurden als Bräute importiert oder als Haushaltshilfen aus dem Ursprungsland der Immigranten, mit denen sie dann zusammenleben. Diese Mädchen werden von der Schule genommen, sobald sie die Pubertät erreichen und zu Hause eingeschlossen. Ihre Familien kommen mit dieser modernen Form der Sklaverei durch, weil die Behörden selten Notiz von diesen Frauen nehmen. Diese Frauen können kaum lesen oder schreiben. Wenn sie heiraten, bekommen sie üblicherweise so viele Kinder, wie ihre Fruchtbarkeit es erlaubt. Wenn sie eine Fehlgeburt haben, sehen die meisten es als Gottes Wille an, nicht als Mangel an ordentlicher Gesundheitsfürsorge, die sie meist nicht in Anspruch nehmen dürfen, weil ihre Familien religiöse Einwände haben.

Die effektivste Art, wie EU-Regierungen mit ihren muslimischen Minderheiten umgehen sollten, besteht darin, die muslimischen Frauen zu stärken, die in ihren Grenzen leben. Das beste Mittel dafür ist Bildung. Doch die Bildungssysteme mancher europäischer Länder werden vernachlässigt, besonders was Einwandererkinder anbelangt. Dabei ist es so wichtig, muslimische Frauen von den Fesseln abergläubischer Vorstellungen und Traditionen zu befreien.

Europas Politiker haben das Potenzial noch nicht erkannt, das in der Befreiung der muslimischen Frau steckt. Sie vergeuden damit die beste Gelegenheit, die Integration von Muslimen innerhalb einer Generation zum Erfolg zu führen. Moralisch gesehen sind die Regierungen dazu verpflichtet, Gewalt gegen Frauen auszurotten. Fundamentalisten würde das erst klar machen, dass die Europäer ihre Verfassungen ernst nehmen. Heutzutage denken die meisten Unterdrücker einfach, dass die westliche Rhetorik über die Gleichheit von Frauen und Männern feige und verlogen ist, weil westliche Regierungen den Missbrauch von Millionen muslimischer Frauen dulden, wenn ihnen gesagt wird, das geschehe im Namen der Religion.

Muslimische Frauen wie Samira hingegen würden ihre Kinder auf ein Leben in modernen Gesellschaften vorbereiten. Diese Frauen würden Familien mit einem Partner planen, den sie sich selbst aussuchen. Sie messen Bildung einen hohen Wert bei und würden ihre Bedeutung für Kinder betonen. Sie wissen Arbeit zu schätzen und würden einen Beitrag zur Wirtschaft leisten wollen. Sie würden sich darum bemühen, die ergrauende europäische Wirtschaft mit dem Humankapital zu versorgen, das sie benötigt, anstatt die Liste der Sozialhilfeempfänger zu verlängern. Was für eine Verschwendung, dass Europa blind ist gegenüber dieser goldenen Gelegenheit, die ihm zu Füßen liegt.

Übersetzt von Clemens Wergin.

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