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Meinung: Lasst keine 1000 Viren blühen!

Sars liefert den Befürwortern von Reformen in China neue Argumente Von Gudrun Wacker

Auch hierzulande kommt es vor, dass die Öffentlichkeit nicht rechtzeitig oder nur unzureichend über Gefahren oder Krisen unterrichtet wird, weil Mitarbeiter in Behörden relevante Informationen nicht an ihre Vorgesetzten weiterleiten oder weil man nicht vorschnell Panik in der Gesellschaft auslösen will. Der Reaktorunfall von Harrisburg, BSE, Dioxin und Futtermittelskandal sind nur einige Beispiele, die dies anschaulich belegen. Inkompetenz, Schlamperei, Trägheit von Bürokratien, Furcht vor der Übernahme von Verantwortung können dazu führen, dass Ausmaß und Auswirkungen einer Krise unterschätzt oder bewusst bagatellisiert werden – und dies unabhängig davon, ob das politische System des betreffenden Landes demokratisch oder autoritär ist. In funktionierenden Demokratien vertrauen wir aber auf eine Reihe von Mechanismen wie freie Medien und unabhängige Aufsichtsinstanzen, die in der Lage sind, solche Fehlleistungen auszugleichen und verloren gegangenes Vertrauen letztlich wieder herzustellen.

Genau hier jedoch liegt das politische Problem Chinas mit der Sars-Epidemie. Trotz mehr als 20 Jahren „Reform und Öffnung“ gibt es dort keine von der Kommunistischen Partei wirklich unabhängigen Kontrollinstanzen und die Berichterstattung der Medien folgt politischen Vorgaben (schlechte Nachrichten sind keine Nachrichten). Noch immer nimmt die Partei für sich in Anspruch, dass nur sie selbst zu Aufsichts- und Korrekturmaßnahmen fähig ist, und begründet dies damit, dass die Zulassung unabhängiger Instanzen zwangsläufig zu Kontrollverlust und gesellschaftlicher Instabilität führen würde.

Zunächst leugnete die chinesische Führung, dass es überhaupt ein Sars-Problem gibt, und dann erklärte sie über Wochen, alles sei unter Kontrolle. Internationaler Druck und Zivilcourage Einzelner führten schließlich zu einer Kehrtwende. Ihre Fähigkeit zur Selbstkorrektur versuchen die politischen Entscheidungsträger durch das Eingeständnis von Versäumnissen und die Entlassung von bisher zwei hochrangigen Politikern, dem Gesundheitsminister und dem Bürgermeister von Peking, zu demonstrieren. Ob es mit diesen beiden tatsächlich zwei Hauptverantwortliche getroffen hat, sei dahingestellt.

Sars wird zweifellos weit reichende Auswirkungen auf China haben. Selbst wenn durch die jetzt ergriffenen Maßnahmen eine weitere Ausbreitung der Krankheit eingedämmt werden kann, scheint bereits festzustehen, dass ihre wirtschaftlichen Folgen für China erheblich sind. Derzeitige Prognosen gehen davon aus, dass die Wachstumserwartungen für dieses Jahr um bis zu 2 Prozent nach unten korrigiert werden müssen. Schwerer wiegen Einbußen an Glaubwürdigkeit und Vertrauen auf internationaler Ebene und noch mehr bei der eigenen Bevölkerung. Lange vor Sars waren bei letzterer angesichts der grassierenden Korruption Unzufriedenheit und Zynismus auf dem Vormarsch. Die unangemessene Behandlung der Sars-Epidemie hat vor diesem Hintergrund zu einem ernsthaften Legitimitätsproblem für die chinesischen Staatsautoritäten geführt. Die jetzige Informationswut verstärkt daher eher das Blühen der Gerüchteküche und die Zweifel an der Kompetenz der Partei, als sie einzudämmen.

Auch wenn die direkte Bekämpfung der Krankheit vorläufig alle Energien der chinesischen Führung absorbiert, wird diese durch Sars vor sehr grundsätzliche Probleme und Fragen gestellt. Chinas ehrgeizige Modernisierungsziele lassen sich kaum realisieren, wenn Transparenz, Verantwortlichkeit und Rechtsstaatlichkeit – Elemente dessen, was heutzutage als „good governance“ bezeichnet wird – aus Furcht vor Machtverlust blockiert werden. Und gesellschaftliche Destabilisierung kann nicht vermieden und Legitimität der Führung wieder hergestellt werden, wenn unabhängige Medien und Aufsichtsmechanismen aus demselben Grund für überflüssig erklärt werden.

Diskussionen über die Notwendigkeit grundlegender politischer Reformen gibt es in China längst. Sars hat den Befürwortern solcher Reformen ein „außerpolitisches“, aber um so stärkeres Argument geliefert. Vielleicht bringt die Sorge um die verloren gegangene Glaubwürdigkeit bei der eigenen Bevölkerung Chinas neue Führung dazu, mehr Transparenz und freiere Berichterstattung nicht nur zu versprechen, sondern auch umzusetzen. Wenn nicht, könnte die Gefährdung der selbst gesetzten wirtschaftlichen Entwicklungsziele sie zu der Erkenntnis zwingen, dass mehr Bewegung in diese Richtung unabdingbar ist.

Die Autorin ist Mitarbeiterin der Stiftung Poltik und Wissenschaft in Berlin. Foto: privat

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