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Meinung: Die deutsche Bevölkerung altert seit Beginn des 19. Jahrhunderts

„Denn sie wissen, was sie tun!“ vom 12.

„Denn sie wissen, was sie tun!“

vom 12. Juni 2005

Deutschland ist von Panik befallen. Integrales Element der gegenwärtigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verzweiflung ist die panische Angst vor der fortschreitenden Überalterung der Bevölkerung, die angeblich nicht nur die Renten, Pensions- und Krankenkassen in den Ruin treibt, sondern auch die Pflegeversicherung torpediert.

Der Anteil der versorgungsbedürftigen Alten an der Bevölkerung steigt rapide, sprengt den Generationenvertrag und bürdet den Jungen unfaire Lasten auf. Das behaupten jedenfalls unisono alle Gazetten, Politiker und Wissenschaftler.

Selbst durch einstimmige Wiederholung wird das Argument freilich nicht logischer. Es gibt keinen stichhaltigen Grund zur Panik vor Überalterung, und wer die Panik schürt, handelt verantwortungslos.

Im Widerspruch zu gängigen Langzeit-Prognosen der Bevölkerungsentwicklung nimmt die Wohnbevölkerung nicht ab, sondern eher noch ein wenig zu. Zwar hat Deutschland eine der niedrigsten bereinigten Geburtenraten der Welt, doch im Gleichschritt mit der abnehmenden Fruchtbarkeit ist die Sterblichkeit gesunken, stärker als von den Demografen erwartet. Der Ausländeranteil hat sich stabilisiert, so dass keine starke Netto-Einwanderung stattfindet. Das Phänomen „Überalterung“ ist keineswegs neu.

Im Prinzip altert die Bevölkerung ohne Unterlass seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Das hat Deutschland bisher keineswegs geschadet. Das Land hat heute, wie allgemein anerkannt wird, die gesündeste und aktivste Seniorengeneration, die es je gab. Und nun soll diese erfreuliche Entwicklung plötzlich in eine Katastrophe münden?

Dr. Heinrich v. Loesch, München

Herr Raffelhüschen vergleicht nicht Äpfel mit Birnen, sondern den Baumsamen von heute mit dem Fallobst von überübermorgen, wenn er das angebliche Defizit bei den Pflegefinanzen in 50 (!) Jahren mit dem Bruttoinlandsprodukt von heute vergleicht. Angebliches Defizit, weil niemand, auch nicht Herr Raffelhüschen, exakte Voraussagen über Bevölkerungs- und Alterungsentwicklung und die damit zusammenhängenden Kosten machen kann, schon gar nicht für 50 Jahre (die Prognosen von 1955 für 2005 waren ebenso falsch, weil niemand z. B. den Pillenknick voraussehen konnte). Außerdem erlaubt er sich, exakte Prognosen für in 50 Jahren zu stellen, und sagt auf der anderen Seite, man könne sich nicht auf die vage Hoffnung, dass Demenz in zehn Jahren therapiert werden kann, stützen.

Herr Raffelhüschen fordert von der Politik, der Öffentlichkeit die ungeschminkte Wahrheit zu sagen, und behält für sich selbst das Recht vor, die Wahrheit, die hinter seiner Botschaft steckt, zu verschleiern: dass er Sprachrohr für die private Versicherungsindustrie ist, welche nur „unser Bestes“ will: unser Geld, das in einem funktionierenden Umlagesystem seit Jahrzehnten ohne große Streuverluste dort ankommt, wo es gebraucht wird, ohne dass Provisionen für Vermittler und horrende Gewinne für die raffgierige Versicherungsindustrie anfallen.

Die Initiative Neue soziale Marktwirtschaft, hinter der unter anderen die private Versicherungsindustrie steht, will einen Teil vom großen Kuchen Sozialversicherung für ihre Klientel abzweigen und zieht dafür das bestehende und funktionierende (!) Umlagesystem in den Schmutz, wo es nur geht. Dabei stützt sie sich auf Berechnungen und Prognosen, die angeblich so unausweichlich, in Wirklichkeit aber nur ein Extremum einer großen Bandbreite von Möglichkeiten sind.

Tim Karsten, Berlin-Moabit

Auch im Tagesspiegel verbreitet seit vielen Jahren Herr Raffelhüschen unisono mit Meinhard Miegel und Hans-Werner Sinn – und auch sie wissen, was sie tun – eine apokalyptische Untergangsstimmung, was die Finanzierung der sozialen Systeme anbelangt, und schürt in unverantwortlicher Weise den Konflikt zwischen Jung und Alt. Sie geben vor, unparteiische und objektische Wissenschaftler zu sein, obwohl sie ausschließlich die Interessen der Wirtschaftsverbände vertreten.

Das ständige Schlechtreden des Umlageverfahrens in den Sozialversicherungen soll auf Sicht zweierlei bewirken: Privatisierung der Sozialsysteme und Ausstieg der Arbeitgeber aus der Parität. Genau das wollen CDU/CSU und FDP. Eindeutige Gewinner wären Versicherungen, Banken und Arbeitgeber. Verlierer wären Patienten, Rentner und Arbeitnehmer, Arbeitslose sowieso.

Allgemein führen Privatisierungen, weil Profit gemacht werden soll, zu höheren Kosten und Risiken. Beispielsweise verbraucht die BfA nur vier Prozent für Verwaltungskosten, Privatversicherer mindestens zehn Prozent. Pensionsfonds sind, das kann man aus den USA lernen, eine höchst unsichere Altersvorsorge.

Kirsten Hoffmann, Berlin-Wilmersdorf

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