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Meinung: Die Linie, die Gut und Böse trennt

Zur Diskussion um Günter Grass’ Mitgliedschaft in der Waffen-SS Die Verurteilung von Grass wegen seiner kurzen Dienstzeit in der Waffen-SS ist völlig unangebracht. Als damaliger Gefangenenverhörer in der amerikanischen 82.

Zur Diskussion um Günter Grass’ Mitgliedschaft in der Waffen-SS

Die Verurteilung von Grass wegen seiner kurzen Dienstzeit in der Waffen-SS ist völlig unangebracht. Als damaliger Gefangenenverhörer in der amerikanischen 82. Luftlandedivision, in der ich als jüdischer Emigrant aus Deutschland damals diente, begegnete ich vielen jungen Deutschen, die Ende 1944/ Anfang 1945 im Alter von 17-18 Jahren in die Waffen-SS eingezogen worden sind. Sie waren also noch „Teenagers“. Im Mai 1945 bekam ich den Auftrag, in einem SS-Gefangenenlager nahe bei Ludwigslust, Mecklenburg zusammen mit drei Kameraden die „Schafe von den Böcken“ zu trennen, also die, die freiwillig in die SS eingetreten waren von denen, die man eingezogen hatte. Dabei habe ich mich besonders darum gekümmert, dass diese Jugendlichen in ein Wehrmachtsgefangenenlager transferiert wurden, da die Mehrzahl von ihnen eben nicht aus politischer Überzeugung in der Waffen-SS gedient hatten. Zu dieser Gruppe, wie man sie am Ende des Krieges in vielen SS-Einheiten fand, gehörte auch Grass. Schade ist nur, dass er seine kurze Mitgliedschaft in der Waffen-SS erst jetzt publik gemacht hat.

Werner T. Angress,

Berlin-Charlottenburg

Günter Grass ist und bleibt ein großer Schriftsteller, und dies umso mehr, weil er in einer Zeit des Ungeistes aufwachsen musste. Er war bei Ende des Krieges nicht einmal volljährig und verschwiegen hat er ja auch nichts, wie der Tagesspiegel heute im Faksimile darstellt.

Was große Geister tun und lassen, ist für „normale“ Menschen nicht immer nachvollziehbar. In diesem Fall mag es genügen, wenn unverdächtige große Geister (Ralph Giordano, Erich Loest, Kardinal Karl Lehmann) Verständnis für Grass zeigen. Hochhuth, Schirrmacher, Pofalla und viele andere, die aufgeregt und schadenfroh Empörung heucheln, offenbaren für mich nur, was sie augenscheinlich sind: kleine Geister, die bei dieser Gelegenheit alte Rechnungen begleichen möchten.

Günter Grass wird noch gerühmt werden, wenn seine heutigen Kritiker längst vergessen sein werden.

Prof. Dr. Volker Wunderlich,

Berlin-Buch

Menschen sind mit Fehlern behaftet und verweigern sich vernünftiger Erkenntnis Sie sind neidisch, missgünstig und voller schneller Urteile über andere. Sie folgen destruktiven Impulsen, sie projizieren ihre eigene Mangelhaftigkeit auf andere. Und sie haben sich zu Millionen vom Nationalsozialismus begeistern lassen, was jeder begreifen kann, der es gewagt hat, die menschliche Seele auch in ihrer dunklen Seite zu sehen. Begreifen – nicht gutheißen. Menschen haben Schatten, und wenn man von ihnen verlangen würde, sie hätten keinen, kann das nicht gut ausgehen. Es kommt darauf an, wie sie mit ihren Schattenseiten umgehen. Und da ist mir Herr Grass mit seinem späten Mut und seinem inneren Ringen sehr viel näher und lieber als sein Biograf, der jetzt sogleich eine moralische Instanz verschwinden sieht. Solche Menschen erwecken in mir den Eindruck, dass sie die Widersprüchlichkeit und Konflikthaftigkeit der menschlichen Natur nicht begreifen wollen. Denn das könnte ihr moralinsaures sagrotangereinigtes Weltbild kaputtmachen und ihnen letztlich die Erkenntnis aufnötigen, dass auch sie selbst Anteile in sich tragen, die man durchaus als böse bezeichnen könnte. Die Linie nämlich, die Gut und Böse trennt, so sagte es der russische Dichter Solschenizyn nach langer Gulaghaft, verläuft quer durch jedes Menschenherz – nicht zwischen Klassen und Parteien …

Katharina Meiske, Berlin-Pankow

Günter Grass hat sich beispielhaft für die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland eingesetzt. Durch sein frühes politisches Engagement war er für einen Teil meiner Generation (Jahrgang 1928) ein großer Hoffnungsträger. Für mich hat der Mensch und Literat Günter Grass durch sein Bekenntnis nichts an Glaubwürdigkeit verloren.

Hannelore Sandow,

Berlin-Wilmersdorf

Da wird also einem 17-Jährigen seine mangelnde Urteilskraft im Hinblick auf das Naziregime vorgeworfen. Wolle man doch bitte die heutigen 17-Jährigern im Hinblick auf ihr politisches Wissen testen! Im Übrigen hält man dieses von vornherein für so unzulänglich, dass man die jungen Leute erst mit 18 Jahren zur Bundestagswahl zulässt. Dies den profilneurotischen selbst ernannten Richtern ins Stammbuch geschrieben. Wütend und verärgert

Ursula Haucke, Berlin-Zehlendorf

Soweit sich die Kritik an Günter Grass darauf beschränkt, dass er sich so spät outet, finde ich das in Ordnung. Wenn ihm aber die Mitgliedschaft in der Waffen-SS als 17-Jähriger an sich vorgeworfen wird, so möchte ich doch einiges dazu sagen. Ich bin Jahrgang 1929 also zwei Jahre jünger als Herr Grass, habe mich aber in einer ähnlichen Situation befunden. Man kann einen damals 15- bis 17-Jährigen nicht mit den heutigen vergleichen. Man war noch nicht so selbstständig wie heute und freie Information und politische Bildung kannte man gar nicht. Die Kritiker in dieser Richtung sollten also schön den Mund halten und sich sachkundig machen.

Gerhard Vogel, Berlin-Lankwitz

Leider wird das Hin und Her um die Zugehörigkeit zur Waffen-SS am Beispiel Günter Grass zu sehr verallgemeinert und vielfach melden sich Leute zu Wort, die keinen blassen Schimmer von der Wirklichkeit des Kriegsendes haben. Mitte November 1944 kam ich 18-jährig als „Marine-Artillerist“ nach der Rekrutenausbildung in eine Flakstellung. Die Batterie musste zehn junge Soldaten zur Waffen-SS abstellen, ich blieb glücklicherweise von der Abkommandierung verschont. So schnell und so einfach konnte man ohne eigenes Zutun am Ende des Krieges bei der Waffen-SS landen!

Werner Salomon, Stadtältester

von Berlin, Berlin-Spandau

Ab 1943 durchkämmte General von Unruh (genannt „Heldenklau“) Heimat und Etappe nach den letzten halbwegs fronttauglichen Männern. Dabei wurde sowohl für die normale Truppe als auch für die Waffen-SS eingezogen. Ich selbst hatte in Dänemark eine Überstellung zur Waffen-SS, der ich mich durch Desertion entziehen konnte. Ich war allerdings 23 Jahre alt und nicht erst 17 wie Grass! Aber auch Günter Grass hatte sich ja nicht freiwillig gemeldet. Jetzt wirft er sich selbst vor, dass er in (kindlicher) Gläubigkeit und beeinflusst durch sein Umfeld noch an den Endsieg geglaubt hat. Es ehrt ihn, wenn ihn dieser Gedanke noch bis in sein Alter verfolgt hat. Die hysterischen Diffamierungen seiner Person hingegen sind einfach widerwärtig.

Wolfgang Strich, Berlin-Zehlendorf

Was hätte Herr Grass zu befürchten gehabt, was er mit etwas Zivilcourage nicht hätte durchstehen können, wenn er vor 20 Jahren erklärt hätte, dass er mit 17 Jahren zur Waffen-SS gegangen ist? Von einem selbst ernannten Moralapostel wie Herrn Grass hätte man mehr Zivilcourage erwarten können!

Dietmar A. König, Zeuthen

Dass es Grass mit seinem Eingeständnis zum jetzigen Zeitpunkt an die Öffentlichkeit drängt, kann wohl nur vor doppeltem Hintergrund verstanden werden. Zum einen hat er damit aus taktischen Gründen bis nach der Verleihung des Nobelpreises gewartet - um nicht seine Kandidatur zu gefährden. Zum anderen steht sein Outing in einem offenkundigen Zusammenhang mit der Veröffentlichung seines neuen Buches. Die an sich begrüßenswerte, wenn auch verspätete Lebensbeichte erhält dadurch den unangenehmen Beigeschmack einer bewusst lancierten PR-Aktion. Im „Krebsgang“ heißt es: „Der Schriftsteller erinnert sich professionell.“ Die Professionalität des partiellen, gezielt eingesetzten Erinnerns wird die düpierte Öffentlichkeit Grass kaum absprechen können. Als moralische Instanz dagegen hat er spürbar an Gewicht verloren. Man bekommt den Eindruck, als sei Grass, dessen Karriere als Schriftsteller mit einem Schelmenroman begann, nun dabei, seine eigene Biografie zu einem solchen umzuschreiben.

Dr. Hermann Detering,

Berlin-Charlottenburg

Gleichgültig, wie man zu den politischen Denkmustern von Herrn Grass, zur literarischen Qualität seiner Bücher und zu seinen „Verirrungen“ in der Nazi-Zeit stehen mag: Der als „Salonsozialist“ gescholtene Günter Grass schafft es mit Hilfe seiner Selbstinszenierungsfähigkeit, den Marketingstrategen des Steidl-Verlages, der Mithilfe von Fernsehen und Presse diese „späte Erinnerung“ zu einem hervorragenden Geschäft für Autor und Verlag zu machen. Da unterscheidet sich Grass nicht von zahllosen Autoren, die sich – im Alter gereift – viele Jahrzehnte später an ihre Leiche im Keller erinnern. Ich glaube nicht, dass Grass schon alle Häute seiner Zwiebel freigelegt hat. Er ist halt auch nur ein Mensch, der Herr Nobelpreisträger.

Peter Thiesen, Lübeck

Dieser Grass ist wirklich zu bedauern. Eine Zeit lang durfte er sich von den Öffentlichkeitsturbulenzen erholen. Keine spektakulären öffentlichen Auftritte, keine Buchveröffentlichungen, kein Wahlkampf! Durfte er sich endlich seine verdiente Ruhe gönnen?

Nein, „das musste raus, endlich!“, gibt er nun zu verstehen. Damit nimmt er in Kauf, dass seine Beichte einen Schock für die Öffentlichkeit bedeutet und er sich neuem Medienrummel auszusetzen hat. Ein Günter Grass wird sicher nicht in Erklärungsnotstand geraten Das „Erinnerungsbuch“ wird dem Nobelpreisträger das Saubermannimage retten, falls diesbezüglich überhaupt Diskussionen aufkommen sollten. Dieses Land dürfte derzeitig andere Sorgen haben, als einem alten „gewissengeplagten“ Mann durch Bücherkaufen Therapie zukommen zu lassen. Ich werde das Buch jedenfalls nicht lesen, denn „Beim Häuten der Zwiebel“ fließen mir wahrscheinlich die Tränen.

Wolfgang Baum,

Berlin-Charlottenburg

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