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Meinung: Verfälschen die Demoskopen durch Umfragen Wahlergebnisse?

„Der rätselhafte Wähler“ und „Opfer der Medienmacht?“ vom 20.

„Der rätselhafte Wähler“ und „Opfer der Medienmacht?“ vom 20. September 2005

Leider haben auch der Bundespräsident und das Bundesverfassungsgericht nicht den Mut gehabt, die pflichtvergessenen, den Geist der Verfassung außer Acht lassenden Spielchen des Bundeskanzlers zu stoppen. Da mag die klammheimliche Hoffnung mitgewirkt haben, den Selbstdarsteller Schröder auf diese Weise los zu werden. Im Ergebnis kann künftig jeder Bundeskanzler fast nach Belieben den Bundestag zu nahezu jedem Zeitpunkt über eine fingierte Vertrauensfrage auflösen, was vor dem Hintergrund der deutschen Demokratiegeschichte ein großes Risiko darstellt.

Zu einem weiteren großen Risiko, das zudem völlig unsteuerbar scheint, hat sich die Demoskopie entwickelt. Da schwadronieren einige Demoskopen, die offenbar niemandem für ihr Tun und dessen Wirkung verantwortlich sind, munter drauflos, geben sich dabei den Anschein wissenschaftlicher Neutralität und liegen mit ihren Ergebnissen – möglicherweise als Folge ihres unbekümmerten Daherredens – zum wiederholten Male völlig daneben. Die Wahrscheinlichkeit, dass Wahlen durch diese Demoskopen beeinflusst werden, ist sehr groß und hat sich zu einem unkalkulierbaren Abenteuer entwickelt.

Axel Hillmann, Bodenheim

Sehr geehrter Herr Hillmann,

Meinungsforscher sind wie Fotografen. Sie machen Momentaufnahmen. Auch heute funktionieren die noch: Die ersten Prognosen von 18 Uhr am Wahlsonntag basierten auf repräsentativen Umfrageergebnissen und waren ziemlich präzise so wie die, die die Kanzlerbewerber schon um 16 Uhr in den Händen gehalten hatten. Früher allerdings hätte man davon ausgehen können, dass auch eine Woche vorher höchstens Schwankungen von wenigen Prozent die Prognosen recht sicher machten. Zum ersten Mal aber hat bei dieser Bundestagswahl noch eine riesige Meinungsänderung stattgefunden. Nicht die Meinungsforschung ist schlechter geworden, ihre Instrumente haben ihren, auch nur kurzfristigen prognostischen Wert verloren. Denn Politik, Medien und Wähler selbst sind in einen nervösen Zustand geraten, der mehrere Ursachen hat. Erstens sind vielen, vielleicht den meisten Bürgern grundlegende politische Überzeugungen abhanden gekommen.

Zwar gibt es eine gewisse Renaissance des Links-Rechts-Denkens, sie steht aber nicht mehr für umfassende Weltbilder, sondern eher für die natürlich wichtige, aber punktuelle Frage, von wem man sich noch am ehesten Jobsicherheit verspricht. Die Politik selbst hat sich, Zeichen der Zeit, eher zu einer Art Management des „Unternehmens Deutschland“ entwickelt, das aber den Laden kaum im Griff hat. Visionen sind nicht gefragt, gleichzeitig ist das „Unternehmen“ durch so viele Faktoren unter Beschuss geraten, die von der Politik kaum beeinflussbar sind, dass an die Stelle abwägbarer Erfolgs- und Interessensteuerung mehr denn je Stimmungen und Persönlichkeitsurteile getreten sind. Denn da, wo man kaum noch Sachkriterien hat, entscheiden zweitens zunehmend diffuse Sympathie- und Charakteranmutungen.

Sicherlich haben die Medien ihren Teil dazu beigetragen, denn die Zuspitzung auf Personen ist spannender, schafft eine interessante Dramaturgie und verkauft sich besser, ja sie wird zum Selbstläufer. Da in diesem Wettbewerb alle mitmachen müssen, wir sehen es bis zur Stunde im Zusammenhang mit den Koalitionsverhandlungen, erhalten wir so viele Duelle, Diskussionen, Standpunkte präsentiert, dass wir zwar wirklich nicht über Informationsmangel klagen können und doch nicht durchblicken. Man könnte es das Aufklärungsparadoxon nennen: Wir haben Informationen und Eindrücke, bekommen sie aber gar nicht mehr sortiert und stehen ratlos davor.

Einen Ausweg bieten dann andere Orientierungshilfen: Anmutung von Kompetenz, Glaubwürdigkeit, Entschlossenheit auf Seiten der Kandidaten; Filterung und Kommentierung von Seiten der Medien; die Einschätzung und Interpretation unserer Mitbürger. Und damit kommt die Meinungsforschung wieder ins Blickfeld: Ihre veröffentlichten Ergebnisse können nämlich drittens tatsächlich das Wahlverhalten beeinflussen. Manchmal heben sich dabei die Effekte gegenseitig auf, manchmal addieren sie sich aber auch und verändern, wie wohl jetzt geschehen, das Gesamtbild. Da wünscht man eine bestimmte „Konstellation“ und „leiht“ auf der Basis der Meinungsinformation der kleineren Partei, z.B. der FDP die CDU-Stimmen, um den wahrgenommenen Koalitionstrend zu stärken. Da sieht man eine veröffentlichte Mehrheit in der Bevölkerung und möchte der auch angehören. Da tritt umgekehrt die so genannte Reaktanz ein: Gerade weil man sich manipuliert fühlt, reagiert man entgegengesetzt und stimmt abweichend von der veröffentlichten Meinung. Der Fotograf, um im Bild zu bleiben, hat also noch vor zwei Wochen eine Schwarzhaarige aufgenommen, dieses Foto hat aber keinen prognostischen Wert, denn inzwischen färbte die Dame, dem Modetrend folgend, ihr Haar bunt. Anders gesprochen, unsere eigenen politischen Stimmungen ändern sich inzwischen mal im Monats-, mal im Tagesrhythmus. Zu gern hätten wir aber wieder Orientierung.

— Jo Groebel, Leiter des Europäischen

Medieninstituts in Dortmund.

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