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Deutschlandfahne am Fenster, aber auch glücklich?

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Leserdebatte: Macht Deutschland Sie glücklich?

Eigentlich müsste er dieses Land für seine Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte bewundern, doch Deutschland mache ihn nicht glücklich, schreibt unser Gastkommentator Nicolai Klatz. Wie geht es Ihnen? Diskutieren Sie mit.

Meine Auffassung von Stolz hat die heimischen vier Wände lange Zeit nicht verlassen. Auf mich selber, klar, konnte ich sehr stolz sein, dazu reichte meist eine entsprechende Punktzahl bei den Bundesjugendspielen. Was dem Stolz auf eine personalunabhängige Struktur am nächsten kam, war die Hingabe an einen bayerischen Fußballverein, den es in erbitterten Wortgefechten gegen uneinsichtige Kameraden zu verteidigen galt.

Motiviert von ersten Eindrücken aus dem Ausland begann ich erst einige Jahre später zu überlegen, wie man für eine Nation, einen geografisch begrenzten Verbund einander unbekannter Menschen, Stolz empfinden kann. Im stillen Kämmerlein murmelte ich Parolen wie „Es lebe Deutschland“, um zu überprüfen, ob sie dazu taugten, ein Gemeinschaftsgefühl in mir zu entzünden. Doch meine kleine soziale Mimikry wirkte lächerlich. Es klang falsch und irgendwie peinlich.

Eigentlich müsste ich dieses Land für seine Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte bewundern. Nach der größten Katastrophe des 20. Jahrhunderts verortet es sich 65 Jahre später im Zentrum Europas als demokratischer und multikultureller Sozialstaat, der international geachtet und hier und da sogar heimlich bewundert wird. Es ist ein Land, das weltweit Verantwortung trägt und sich um die Belange der Armen und Verfolgten kümmert. Das über eine offene Diskussionskultur verfügt und Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit als unentbehrliche Werte in seinem Grundgesetz verankert hat.

Trotzdem lässt sich eine euphorische Welle darüber nicht erkennen. Stattdessen wirken wir Deutschen wie eigenbrötlerische Hüter der eigenen Verletzbarkeit. Die Öffnung privater Ebenen fällt uns schwer, unsere Schwächen behandeln wir im Verborgenen. Sie preiszugeben oder offen zu thematisieren liegt uns nicht. Erich Kästner klagte 1928, dieses Land „könnte glücklich sein und glücklich machen. Dort gibt es Äcker, Kohle, Stahl und Stein und Fleiß und Kraft und andre schöne Sachen. Selbst Geist und Güte gibt’s dort dann und wann“.

Könnte – Kästners Konjunktiv verwirft resignierend ein umsetzbares Ideal. Die Realität ernüchtert. Latente Verdrossenheit ist noch immer ein fataler Wesenszug, ein Hinweis auf ein von Teilung geprägtes Naturell tief verankerter Skepsis. Der ehrliche Wunsch, Offenheit zu leben, steht dem unterschwelligen „Lass mich in Ruhe“ auch auf meinem inneren Schlachtfeld gegenüber. Der ungewollte Parasit – eigentlich hoffnungslos unterlegen gegen eine Überzahl moralischer Überzeugungen – erhält dabei immer neuen Aufwind durch aktuelle Debatten um mangelhafte Integration, die deutlich machen, dass es ein Kollektiv, auf das ich stolz sein möchte, (noch) gar nicht gibt.

Meist wird nicht einmal der Kern des Problems erkannt, nämlich, dass Integration nicht nur den Umgang mit Migranten meint, sondern die Neugier auf das Unbekannte und die generelle Bereitschaft, seine eigenen Ansichten durch Neues zu ergänzen. Gebremst wird Integration nicht nur durch widerwillige Einwanderer, sondern auch durch die Ausbreitung von Konkurrenzdenken und die Abkehr von Konzepten wie der sozialen Marktwirtschaft. Wo Menschen vorrangig damit beschäftigt sind, ihren sozialen Status zu sichern, werden äußere Einflüsse zum negativen Reiz.

Ein neues Miteinander wird daraus nicht entstehen. Vielmehr sind neue Ideen gefordert: Wie ist es zu schaffen, dass sich möglichst viele Menschen wieder wohl, gebraucht und sicher fühlen? Wie fördern wir gegenseitige Akzeptanz zwischen Arbeitnehmern, -gebern, -suchenden und Nicht-Arbeitern? Bislang wirkt das konkurrierende Kollektiv von heute wie die postmoderne Form der von Kästner angeführten Weigerung, sich auf andere Werte zu besinnen.

Mein Nationalstolz verbleibt vorerst im Wartezimmer meiner Gefühle. Dort sitzt er neben Kästners und wartet.

Der Autor ist 27 Jahre alt und arbeitet als Volontär bei einer Fernsehproduktion in Wiesbaden.

Hat der Autor Recht oder übertreibt er, wenn er die Deutschen als eigenbrötlerische Hüter der eigenen Verletzbarkeit darstellt? Nutzen Sie die Kommentarfunktion und diskutieren mit!

Nicolai Klatz

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