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Herr Lehrer, ich weiß es!

© picture alliance / Daniel Karman

Leserkommentar: Muss sich der Geschichtsunterricht an muslimische Schüler anpassen?

Die Anzahl muslimisch geprägter Schülerinnen und Schüler ist in den letzten Jahren gestiegen. Sollte sich der Geschichtsunterricht anpassen? Dazu ein Kommentar unseres Lesers.

Vor nicht allzu langer Zeit sagte Aziz Bozkurt, der Bundesvorsitzende der AG Migration und Vielfalt der SPD, sinngemäß in einem Interview: An unseren Schulen müsse, wie beispielsweise in Kanada, nicht mehr nur die Landesgeschichte gelehrt, sondern auch die der Herkunftsländer.

Bei einer Veranstaltung in Berlin - eigentlich dem später geschassten Staatssekretär Holm und seinen Stasiverwicklungen gewidmet - schlug der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk den Bogen zum heutigen Geschichtsunterricht, als er ausführte, dass die deutsche Geschichte eine Geschichtsschreibung von weißen Männern sei, die wohl in einer Einwanderungsgesellschaft nicht länger zu halten wäre. Die hoffentlich auch weisen Männer hätten die Geschichte Deutschlands aus der Sicht von Deutschen für Deutsche erzählt. Da aber immer mehr Kinder in den Schulen aus Migrantenfamilien stammen, gäbe es diese Übereinstimmung nicht mehr.

Beide Aspekte sind meines Erachtens für die Entwicklung des Faches Geschichte bedeutsam.

Die Vorfahren dieser Kinder spielten meist nicht in Deutschlands Sandkästen, gingen nicht in ihre Schulen und nahmen nicht am letzten Krieg des Landes teil, geschweige denn an seinen Gräueltaten und am Holocaust. Da ihre Geschichte woanders läge, hätten sie weder geschichtliche Schuld auf sich geladen noch trügen sie heute Verantwortung dafür. Im Unterricht sind zwar auch die Schüler mit Migrationshintergrund interessiert am Thema „Hitler und die Nazis“, sehen sich aber oft nicht in einem persönlichen oder gesellschaftlichen Kontext. Nicht wenige bekennen sich auch zu ihrer antisemitischen und/oder antiisraelischen Haltung, die aus ihrer familiär-kulturellen Herkunftsgeschichte stammt.

Allein diese Sequenz der deutschen Geschichte und ihrer neuen Adressaten verdeutlicht, vor welchen Herausforderungen die Geschichtsvermittlung in Deutschland und das Unterrichtsfach Geschichte stehen.

Geschichtsunterricht im Wandel

Muss die Geschichte für die neue Schülergeneration um- oder neu geschrieben werden? Muss der Geschichts- und Politikunterricht anders akzentuiert, müssen Anteile der deutschen Geschichte gestrichen und Anteile aus anderen Ländern hinzugefügt werden? Wo gibt es Anknüpfungspunkte? Exemplarisch:

die exzellenten Beziehungen des Deutschen Kaiserreichs zum Osmanischen Reich, wo in Konstantinopel die erste Botschaft nach der Reichsgründung eingerichtet wurde. Muss er in der Konsequenz sogar nach den verschiedenen Herkünften separiert oder zumindest binnendifferenziert unterrichtet werden?

Immer mehr Heranwachsende stammen aus Familien, deren Geschichte im Nahen Osten, in Nordafrika, auf dem Balkan, am Hindukusch oder am Kaukasus beheimatet ist. Ihr empathisch-gedanklicher Rahmen umspannt nicht die früheste deutsche Geschichte oder des Mittelalters, nicht die deutsche Rolle bei Reformation, Aufklärung, Kolonialismus und bei Ausbruch und Beendigung des 1. Weltkrieges. Sie sind weit entfernt davon zu verstehen, wie Nazis und Kommunisten und ihre Schlägerbanden tickten, wie wenig die Binnenflüchtlinge nach 1945 mit den Flüchtlingen der Gegenwart zu tun haben, wie ideologisch fremd sich die BRD und die DDR Zeit ihrer Existenz waren oder warum die hauptamtlichen Stasimitarbeiter besonders im Focus der Aufarbeitung der DDR-Geschichte standen und sich die Gesellschaft so stark spaltete, wenn es um ihre Eingliederung nach der Wende oder gar um Einstellung in den öffentlichen Dienst ging und geht.

Auch die herausragenden naturwissenschaftlichen Erfolge der Vergangenheit oder das philosophische und kulturelle Erbe der Klassik verblassen vor den Geschichtsbildern aus ihrer ursprünglichen Heimat. Vor den Eroberungskriegen Mohammeds und seiner Nachfolger, vor den Reichen der Perser und Osmanen, vor den Balkankriegen am Anfang und Ende des 20. Jahrhunderts, vor den Massakern an Armeniern und den Pogromen an Griechen… Muss all dies in unserem Geschichtsunterricht neu erzählt werden, damit sie ihre eigene Geschichte und Kultur besser verstehen? Müssen wir dafür die Geschichtsschreibung aus diesen Gebieten übernehmen, zumindest teilweise, sie neu bewerten oder gänzlich neu schreiben? Können wir das überhaupt leisten? Können das unsere Wissenschaftler und Lehrer?

Der Druck zur Veränderung des Geschichtsunterrichts wächst von allen Seiten, von den beteiligten Schülern und Lehrern, von Wissenschaft und Politik. Vielleicht schafft man es so, das Interesse am Fach Geschichte wieder zu stärken.

Klaus Paatzsch

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