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Meinung: Lob der Muße

Von Pascale Hugues, Le Point

In der Menge erschöpfter Menschen vergangenen Montag in Leipzig fiel ein Mann durch seinen stolzen Gang auf. Ans Revers seiner Anzugjacke hatte er eine ganze Batterie von Medaillen geheftet. Ein Veteran der Roten Armee? Oder ein ExGeneral, der für seine Expeditionen in entfernte Kolonien mit Ruhm überschüttet wurde? Nein. Der Mann war ein Held der Arbeit. Vor nicht allzu langer Zeit war das Kombinat noch das Schlachtfeld des Sozialismus, wo man Ehre und Glückwünsche des Brigadechefs einheimsen konnte. Das Vokabular war militärisch, die Organisation der Arbeit auch. Am Montag in Magdeburg trug der degradierte Held einen Wollfaden um den Hals. Daran hing ein Plakat: „Arbeit schaffen, statt abzuzocken“.

Was für ein tragisches Bild. Es sagt so ziemlich alles über das Gefühl der Entwertung, das so viele Ostdeutsche erleben. Ist es Zufall, dass sich die Wut wie ein Strohfeuer ausgebreitet hat, mitten im Hochsommer, der Jahreszeit erlaubter Faulheit? Der Kanzler war im Urlaub in Italien, Europa sonnte sich an den Stränden. Es waren 30 Grad im Schatten in Magdeburg. „In der DDR war es unmöglich, zu Hause zu bleiben und nichts zu tun“, erklärt mir ein Demonstrant voller Stolz. „Da konnte es passieren, dass die Polizei kam und Zack, fand man sich im Knast wieder.“ Im Osten war der Arbeitslose ein Taugenichts, von vornherein suspekt. Ein stigmatisierter Asozialer und Nestbeschmutzer der hoch gelobten egalitären Harmonie. Den Westen hatte Helmut Kohl mit einem riesigen Freizeitpark verglichen. Ein verfluchter Ort, wo niemand arbeitet. Was für eine Beleidigung!

Arbeit ist eine der größten Tugenden in Deutschland. Ich weiß, das ist ein furchtbares Klischee. Arbeit ist hier der Grund zum Leben par excellence, während sich die romanischen Völker angeblich dem leichten Leben verschreiben. Das kleine Wort „schaffen“ riecht nach Schweiß. Es erinnert an den Kraftakt der 50er Jahre, als ganz Deutschland die Ärmel hochkrempelte, um – ohne groß nach hinten zu schauen – das Wirtschaftswunder zu vollbringen. „Schaffen“ kann man nicht ins Französische übersetzen. Es bezeichnet einen unbedingten Eroberungswillen, atmet die protestantische Ethik. Vielleicht fällt es Italienern oder Polen, denen man Faulheit nachsagt, leichter, arbeitslos zu sein?

Am Kiosk des Magdeburger Bahnhofes kaufe ich die einzige französische Zeitung, die es gibt. Ein literarisches Magazin mit dem provokanten Titel „Lob der Faulheit“. Ich bin die Einzige dort zu der fortgeschrittenen Stunde, verstecke das Magazin aber vorsichtshalber unter meinem Parka – als trüge ich Untergrundliteratur mit mir herum, explosives Samisdat. Wenn man eine Stadt verlässt, in der 20 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind, liest man keine philosophischen Traktate über die Faulheit. Das ist nicht angemessen! Was würde der Held der Arbeit von mir denken, wenn er mich so sehen würde: In einem Waggon der Deutschen Bahn habe ich mich in meinen Sitz gemümmelt, die Füße hochgelegt, meditiere mit Laotse über das kreative Nichtstun und genieße ein leichtes Gedicht Pessoas über die Sinnlichkeit der Siesta. Da erinnere ich mich an einen grauen Morgen in Magdeburg vor 14 Jahren. Um sechs Uhr morgens schreckte mich laute Geschäftigkeit vor dem Hotel aus dem Schlaf. Der Platz vor meinem Fenster war voller Menschen. Frauen und Männer gingen zum Kombinat, die Kinder in die Krippe. Heute kann man in Magdeburg den ganzen Vormittag faulenzen, ohne dabei gestört zu werden. Apathie ergreift mich. Ich nicke ein über einem Text von Thomas von Aquin, der den Nutzen des genussvollen Ausruhens preist. Bis der Schaffner mich aufweckt. Es ist Mitternacht. Der Zug ist am Bahnhof Zoo angekommen.

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