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Meinung: Mal wieder Demokratie wagen

Der Rückzug des Staates darf ihn nicht handlungsunfähig machen

Der Staat zieht sich zurück. Diesen Rückzug kann man feiern als das Ende eines sozialstaatlichen Größenwahns, als die Rückeroberung individueller Freiheiten. Oder beklagen als das Ende einer gerechten, chancengleichen Gesellschaft, als brutalen Sozialabbau. In beiden Fällen wird eines dabei übersehen: Die Krise des Sozialstaats ist natürlich auch eine Krise der Demokratie. Nicht legitimierte außerparlamentarische Expertenkommissionen wie die von Peter Hartz und Bert Rürup, Eklats im Bundesrat, der Zerfall gesellschaftlicher Machtgruppen wie der Gewerkschaften – all das sind nicht etwa skurrile Verformungen des demokratischen Diskurses in Deutschland. Sie sind inzwischen der Diskurs.

Ob die Sprüche „Mehr Demokratie wagen“ oder „Die Rente ist sicher“ hießen, der Grundirrtum war immer derselbe: dass gesellschaftliche Teilhabe an Macht und Kapital uneingeschränkt erweiterbar sei. In der Krise kommt es jedoch zu Machtverschiebungen, zu Implosionen gesellschaftlicher Machtfaktoren, die die Grenzen der Mitsprache deutlich machen. Und es zeigt sich, dass wir darauf schlecht eingestellt sind. In seiner womöglich historischen Regierungserklärung am 14. März sagte Kanzler Gerhard Schröder: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Einzelleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen.“ Vom geordneten Rückzug des Staates aus dem Leben des Einzelnen war nicht die Rede. Der Bürger des Kanzlers ist passiv und bringt Opfer – und Opfer bringen heißt in Deutschland nie mehr als: Geld zahlen.

Eine moderne Demokratie muss jedoch in der Lage sein, sich in Krisenzeiten neu zu gestalten, zu ordnen. Konkret: Rückzug des Staates darf nicht nur heißen, dass der Bürger mehr zahlt oder spart; ordnungspolitische Verwahrlosung ist etwas anderes als Liberalismus. Wer Steuern senkt, muss auch die Zahl der Steuergesetze senken; wer dem Patienten mehr für seine Gesundheitsversorgung aufbürdet, darf ihn nicht zugleich in staatliche Kassen zwingen. Und umgekehrt: Ein Staat, der immer mehr einfordert, um Strukturen zu finanzieren, die immer teurer werden, gefährdet nicht nur die Zukunft seiner Bürger, sondern seine eigene demokratische Legitimität.

Schon im März hätte Schröder versprechen können, endlich gegen jene Strukturen vorzugehen, die ihn nach seinen Worten doch fünf Jahre daran gehindert hatten, Reformen durchzusetzen. Er hätte verkünden können, wie er in diesen schlechten Zeiten die Macht verteilen möchte. Wie er sich das Verhältnis zwischen Bund und Ländern vorstellt. Ob man Wahlen zusammenlegen sollte. Welche regulativen Freiheiten dem Bürger zustehen. Wie zeitgemäß Teile des Grundgesetzes – oder auch die krakenartige Macht der Parteien – noch sind. Kurz: Er hätte verkünden können, wie er den sparsamen Staat demokratisch handlungsfähig halten will.

Die endgültige Implosion der Sozialsysteme wird vermutlich sehr teuer. Darauf zu warten, ist jedoch nur zynisch; der Implosion demokratischer Strukturen nicht rechtzeitig entgegen zu arbeiten, ist verantwortungslos. Und dann auch nicht einfach mit Geld aus der Welt zu schaffen.

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