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Meinung: Markt ohne Staat

Von Harald Schumann

Gut, dass es die polnischen Schlachter gibt. Die Inhaber dubioser Briefkastenfirmen heuern sie zu Tausenden an, um sie als „Dienstleister“ in die deutschen Schlachthöfe zu schicken. Dort leisten sie 80Stunden-Wochen zu Hungerlöhnen und haben so bereits 26 000 heimische Arbeiter um ihre Jobs gebracht. Das ist hart für die Betroffenen, aber lehrreich für die Politik. Unverhüllt ist zu besichtigen, was geschieht, wenn die Freiheit des EU-Binnenmarktes nationalstaatliche Vorschriften unmöglich macht. Erst anhand dieses Falls hat auch der Bundeskanzler begriffen, welches Projekt da in Brüssel unterwegs ist: Die harmlos so bezeichnete Dienstleistungsrichtlinie soll das Schlachthofprinzip auf alle öffentlich und privatwirtschaftlich erbrachten Dienstleistungen ausdehnen. Würde der Vorschlag Gesetz, könnten Unternehmen künftig EU-weit jede Arbeit – von A wie Autoreparatur bis Z wie Zahnfüllung – nach dem Recht jenes Landes erbringen, in dem die Firma ihren Sitz hat.

Dieses Herkunftslandprinzip hat beim Handel mit Waren viele protektionistische Vorschriften außer Kraft gesetzt. Warum, so argumentieren die Anhänger der grassierenden Marktreligion, sollte man beim Handel mit Dienstleistungen nicht genauso vorgehen? Die Antwort: Weil die menschliche Arbeitskraft eben keine Ware ist wie jede andere. Auf einen Schlag würden 25 verschiedene Systeme für die soziale Absicherung, für den Gesundheitsschutz, für die Lohnfindung und auch für den öffentlichen Dienst in direkte Konkurrenz miteinander treten. Innerhalb derselben Betriebe könnte gleichzeitig nach dem Recht von Litauen, Großbritannien oder Deutschland gearbeitet werden. Aufsichtsbehörden würden überflüssig, denn sie müssten die Einhaltung von 25 Rechtssystemen kontrollieren. Rechtliches Chaos und die Nivellierung von Löhnen und sozialer Sicherung auf niedrigem Niveau wären zwangsläufig die Folge.

Schon die geltenden Binnenmarktregeln haben die Rechte der Unternehmen über alle Grenzen ausgedehnt, während Arbeitnehmerrechte, Steuergesetze oder soziale Absicherung nationale Angelegenheiten blieben. Die Ausdehnung dieses Prinzips auf alle Dienstleistungen und damit zwei Drittel aller Arbeitsplätze hätte den Marsch der EU in einen Markt ohne Staat endgültig besiegelt. Darum ist es richtig, dass Gerhard Schröder und Jaques Chirac diesem Projekt eine vorläufige Absage erteilt haben. Noch besser wäre gewesen, wenn sie präzise Vorschläge gemacht hätten, wie ein Wettbewerb im Dienstleistungsmarkt herzustellen wäre, der nicht über Sozialdumping ausgetragen wird.

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