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Meinung: Markt-Werk

Nicht mehr Lektoren und Literaturliebhaber bestimmen, was gedruckt wird, sondern Marketingabteilungen. Um stärker zwischen Literatur und Ramsch zu unterscheiden, sollte es trennscharfe Bestsellerlisten geben

Früher war die Zukunft besser. Wer in der damaligen Gegenwart Bücher machte, war kein Buchmacher, wie es sie in der heutigen Zeit gibt, sondern ein Buchverleger. Bevor sie überhaupt ein Buch druckten, lasen solche Buchmacher zunächst einmal selbst alle Manuskripte, die zukünftig im Namen ihres Hauses verlegt werden sollten. Danach warteten sie auf das Urteil der hauseigenen Bücherfreunde. Ob den Lektoren und den Programmleitern die zur Entscheidung vorliegenden Geschichten inhaltlich gefielen, war nicht entscheidend. Vorrangig ging es ihnen um Sprache. Der waren sie schon von Berufs wegen verfallen.

Persönlicher Geschmack blieb dabei draußen vor der Tür, die rote Linie allerdings, die Sprachzauberer von Sprachklaubern trennte, wurde nicht überschritten. Mittelmäßiges oder Mäßiges reichten sie lieber weiter. Auch das ungebildete Volk sollte lesen und etwas zu lesen bekommen. Für gewisse Bücher gab es gewisse Verlage, und für gewisse Verlage kamen diese gewissen Bücher gewiss nie infrage. Um die Bedürfnisse der Ungebildeten zu befriedigen, die damals verallgemeinernd nur Proletariat genannt wurden, obwohl ebenso viele Blöde sich in den Salons der Gebildeten tummelten, gab es Druckanstalten, die passende Bücher produzierten.

Hedwig Courths-Mahler, Tochter einer Marketenderin und eines Flussschiffers, ohne Schulabschluss aufgewachsen in Weißenfels, wäre andernfalls nie gedruckt worden. Sie schrieb im Laufe ihres Lebens mehr als zweihundert Romane und Novellen. Manchmal veröffentlichte sie drei, vier Bücher in einem Jahr. Alle erfolgreich. Das weibliche Dienstpersonal suchte und fand in denen seinen Alltag wieder und wenigstens bei Courths-Mahler, wenn schon nicht in der Wirklichkeit, die Erfüllung seiner Sehnsüchte.

Einfache Wünsche des hart arbeitenden einfachen Weibervolks einfach geschildert, aber die Geschichten fast immer nach Irrungen und Wirrungen mit dem Sieg einer romantisch verkitschten Liebe endend, waren Bestseller, bevor es Bestsellerlisten gab, beliebte Vorläufer der heutzutage unter dem Sammelbegriff „Moderne Frauenliteratur“ gedruckten Bücher. In denen tranken damals die Hauptpersonen Fassbier und Brause, ebenso wie die, denen ihr Schicksal zu Herzen gehen sollte. Heute trinken Protagonistinnen wie Leserinnen, vereint im gleichen Lebensstil, den sie für stilvoll halten, grünen Tee und Prosecco, verdrängen ihre Beziehungskrisen nicht mehr im stillen Kämmerlein, sondern breiten sie vor ihren Freundinnen und dann in aller Öffentlichkeit aus. Was die literarische Substanz betrifft, hat sich Aussagen von gebildeten Fachfrauen zufolge eigentlich kaum etwas geändert. Es muss nicht mehr nur das Herz schmerzen, es darf, detailliert beschrieben, auch gern viel tiefer wehtun.

Wer noch kein Sabbergreis ist und als Mann naturgemäß nicht zu dieser Zielgruppe gehört, derartige Werke also nie gelesen hat, kann über Inhalte natürlich kein Urteil abgeben. Er dürfte sich allenfalls Gedanken darüber machen, ob es an der Zeit wäre, die Bestsellerlisten, auf denen Bücher solcher Machart gleichwertig neben originärer Literatur rangieren, zu zerschlagen und das Genre anschließend neu zu ordnen. So wie es nicht das Fernsehen gibt, sondern verschiedene Fernsehkanäle für die verschiedenen Ansprüche zwischen Arte und Super RTL, gibt es nicht die Belletristik oder die Sachbücher.

Das wäre eine Kulturrevolution, zugegeben.

Aber vorstellbar:

Ganz oben steht eine Bestsellerliste Belletristik, in der ausschließlich Literatur aufgeführt wird, die diesen Namen verdient. Leicht dahingesagt. Doch wer bestimmt, welche Romane literarische Ansprüche erfüllen? Nein, nicht schon wieder eine Jury. Die Buchhändler, wer denn sonst? Noch gibt es knapp viertausend unabhängige Buchhandlungen in Deutschland, die das Kulturgut Buch anbieten. Was im gemeinsam erstellten, aktuellen Kanon der Buchhändler aufgenommen wurde und was sich dann davon am besten in ihren Geschäften verkauft hat, kommt auf diese Liste. Am Anfang stehe immer die Liebe, schrieb einst „Literaturen“, nämlich diejenige von Buchhändlern zu einem noch so kleinen Roman, in dem sie das gefunden haben, was sie in den Büchern, die griffbereit neben der Kasse liegen, nicht finden können. Eine Geschichte. Eine Idee. Eine Sprache.

So etwas wie eine gemeinsame Aktion in Sachen Literatur wäre früher nicht zu realisieren gewesen. Es hätte zu lange gedauert, bis alle relevanten Neuerscheinungen gelesen und sortiert und ein entsprechendes Votum weitergegeben worden wären. Heute ginge das täglich und stündlich, weil alle Buchhandlungen auf Knopfdruck online ihre Urteile abgeben könnten. Die müsste ein Webmaster, in dem Fall wäre er ein Bookmaster, beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels koordinieren und anhand der gemailten Bewertungen die Rangliste der literarischen Superstars erstellen.

Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die fragenden Kunden kompetente Gesprächspartner in den Buchhandlungen finden. Der verzweifelte Autor eines Tagesspiegel-Artikels berichtete vor Jahren von seinen Versuchen, in einer Zweigstelle des Branchenriesen Hugendubel (Jahresumsatz 250 Millionen Euro) den Roman „Das Geld“ von Emile Zola, dem Chronisten der französischen Bürger und Proletarier im 19. Jahrhundert, zu bestellen. Telefonische Auskunft: „Finde ich nicht, Geld, sagen Sie? Schau ich mal am besten unter Ratgebern nach.“

Eine zweite Bestsellerliste Belletristik notiert die Favoriten des Massengeschmacks. Auf der erscheint je nach Verkaufserfolg oben oder unten alles, was nach Ansicht der Buchhändler nicht in die anspruchsvolle Liste 1 passt. In der „New York Times“ wird die entsprechende Erfolgsstatistik unter der Rubrik „Mass-Market Fiction“ gedruckt. Der qualitative Unterschied zwischen Liste 1 und Liste 2 entspricht in etwa dem zwischen Oper und Operette, zwischen Picasso und Jeff Koons, zwischen Sean Connery und Til Schweiger.

Die Sachbuch-Bestsellerliste enthielte tatsächlich nur Biografien und Sachbücher, also keine als Sachbücher getarnten Leitfäden und Kalenderweisheiten oder Sach-bloß-Bücher, in denen es darum geht, ob Frauen besser einparken können als Männer, ob die sowieso alle nur Schweine sind, ob SPD/CDU/FDP/LINKE/Grüne noch zu retten sind oder ob die englischen Durchsagen bei der Deutschen Bahn akzentfrei im Oxford-Englisch gesprochen sind, das natürlich alle beherrschen, die in den ICEs nach Wolfsburg unterwegs sind.

Auf der vierten Liste ginge es analog zum Massengeschmack in der Belletristikliste 2 um Bücher aus dem Bereich Lebenshilfe. Wie man eine Pilgerreise unternimmt und sich dabei nicht verirrt, ist das erfolgreichste Beispiel aus dieser gehobenen Klasse. Es sind vor Hape Kerkeling ja schon viele auf Wanderschaft gegangen, aber ihm ist es erfolgreich gelungen, die deutsche Wanderlust mit der anderen deutschen Sehnsucht zu verbinden, im Weg das eigentliche Ziel zu sehen.

Gut verkäuflicher Stoff für gewisse Bedürfnisse, Romane oder Sachbücher in den Listen 2 und 4, muss entweder erfunden oder gefunden werden. Solcher Stoff liegt selten offen auf der Straße, meist verborgen in den Gassen, oft nur in den Gossen. Das war früher aber nicht anders. Neu dagegen ist, dass Druckwerke von Sprachlosen beispielsweise auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert werden, als handle es sich dabei tatsächlich um Bücher, nicht nur um von ausgebufften Marketingstrategen kühl platzierte Produkte für den Massenmarkt. Wenn in der einst nur der Literatur vorbehaltenen Halle E in Frankfurt vor einem Verlagsstand die Fotografen und Fernsehteams um die besten Plätze rangeln, wenn superlautes Gekreische die Tonlage bestimmt, wenn erblassende Damen ehrenwerter Häuser sich fluchtartig auf die Suche nach der verlorenen Zeit begeben, sind wieder mal Verdichter des Volkes eingetroffen, um am Stand des ihnen zugetanen Verlags für ihr aktuelles Leergut zu werben.

Die Sprachlosen schreiben wie sie sprechen. Und sprechen wie sie schreiben. Seit es sie zum Buche drängt, leider nicht, um mal eins zu lesen, leben aber zumindest die Ghostwriter gut von diesem Supermegatrend. Beten allerdings doch, dass niemand ihre Arbeit würdigt und dabei ihren Namen lobend erwähnt. Sie wissen ja, was sie tun, und schämen sich dafür. Erfolg gibt all jenen Recht, die sich keine Gedanken machen um ein etwaiges Renommee ihres Verlages, sondern den Tunnelblick fest gerichtet haben auf eine zweistellige Rendite ihrer Druckanstalt. Sie handeln nach dem kühlen Prinzip von Bundesliga-Fußballclubs, wonach es, wenn am Ende abgerechnet wird, keine Sau mehr interessiert, ob drei Punkte grandios erspielt oder mit Glück ermauert wurden.

Weil an dem Material, das sie drucken, sprachlich nichts zu verfeinern ist, denn dafür müsste zumindest ein Rest von Substanz erkennbar sein, an dem sich feilen ließe, verzichten sie auf Lektoren. Das wird als zeitgemäßes Kostenmanagement verkauft. Die vor absonderlichen Absonderungen zurückschreckenden Verleger stehen mittlerweile auf einer Roten Liste bedrohter Arten. Wo Marketing- und Vertriebsabteilungen das letzte Wort über Wörter haben, statt sprachgeilen Lektoren und Programmleitern, entscheidet nicht die Qualität, sondern die Quote.

Woher kennt man das?

Richtig.

Einst wussten die vor ihrer schwarzen Remington oder ihrer roten Valentine sitzenden Schreiber, für die ein Begriff wie „Kult“ zutreffend wäre, dass sie noch so viele tolle Sätze in ihre Maschinen hacken könnten, aber all ihre Mühe vergebens sein würde, falls ihr Werk niemand zu drucken bereit war. Sie stritten sich zwar mit ihren Verlegern, doch hüteten sie sich, mit ihnen zu brechen. Von Zeit zu Zeit sahen sie die für sie zuständigen Alten sogar gern. Aber die auf der anderen Seite, die im Besitz der Produktionsmittel waren, wussten ebenso gut, dass sie ohne deren Software keine Hardware in ihren Druckereien produzieren können würden und stattdessen gezwungen wären, Nähmaschinen herzustellen oder Regencapes. Was nicht gar so viel Prestige in ihren Kreisen bedeutet hätte.

Man war aufeinander angewiesen, so oder so. Die einen beäugten misstrauisch die anderen, weil sie vor dem ersten Satz Vorschüsse verlangten, ungern Termine einhielten, bis zum letzten Moment um noch besser passende Wörter rangen und dies auch wortreich schriftlich begründen konnten, falls Mahnungen bei ihnen eintrafen. Früher per Post, was die Möglichkeit erhöhte zu lügen, etwa mit dem Argument, der Brandbrief des Verlags müsse unterwegs verloren gegangen sein. Heute sind Schreiber im Nachteil, weil sie im Zug der Neuzeit ihre Valentine oder Remington entsorgt haben, ihre guten Einfälle dem Computer anvertrauen und selbstverständlich alle bis auf Peter Handke online erreichbar sind.

Es wurden und werden zu viele sprachlose Bücher gedruckt, nach deren schon flüchtiger Lektüre man all die Bäume um Vergebung bitten möchte, die für den Schund ihr Leben lassen mussten. Es gibt aber Bücher, die werden leidenschaftlich nachts verschlungen, weil sie nur im Rausch begreifbar sind und nach deren letztem Satz sich der von ihnen verführte Leser so verlassen vorkommt wie nach dem Ende einer großen Liebe. Trost gibt es: Wer ein gutes Buch so sinnlich begriffen hat, begreift zukünftig sich selbst ein bisschen mehr. Vor solchen Büchern müssen zudem alle Angst haben, die Angst verbreiten, Bücher sind ein unberechenbares feindliches Heer mit Millionen Wörtern als Soldaten.

Bücher sind Zeugen einer Zeit. Bücher ziehen mit in die Schlachten gegen die Vereinfacher. Mit Büchern – sogar mit E-Books! – kann man Kopfnoten erteilen, indem man sie auf Hohlköpfe schlägt und dann auf den Klang achtet.

Mit Büchern kann die Welt, an die sich die meisten Menschen am liebsten erinnern, die unbeschwerte Welt ihrer Kindheit, an jedem Tag des Erwachsenenlebens Auferstehung feiern, bis zum letzten Moment, bis der Tod zu den dann von keiner Zeitvorgabe mehr beschränkten Lesungen im Club der toten Dichter bittet.

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